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Der Pathologe

Der Pathologe

Titel: Der Pathologe
Autoren: Jonathan Kellerman
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davon überzeugt, dass es den Sitzungen zugute kommt, wenn Sie dabei sind.«
    »Tatsächlich?«
    »Selbst wenn Sie nicht viel sagen, hält die Tatsache Ihrer Anwesenheit den Rest von uns auf Zack. Sensibilitätsmäßig.«
    »Nun ja«, erwiderte Jeremy, der sich fragte, warum der alte Mann ihm so schamlos um den Bart ging, »wenn es zur Sensibilität beiträgt.«
    »Als Sie sich damals zu Wort gemeldet haben«, sagte Arthur, »ist das uns allen eine Lehre gewesen.«
    Jeremy fühlte, wie er rot wurde. »Ich hatte den Eindruck, es gehörte zur Sache.«
    »Oh, das tat es, Jeremy. Nicht jeder hat es so gesehen, aber das tat es.«
    Als er sich damals zu Wort gemeldet hatte
 – das war sechs Wochen her. Arthur zeigte Dias eines metastasierenden Magenkarzinoms auf der großen Leinwand und definierte die Tumoren in dem exakten poetischen Latein der Histologie. Die Patientin, eine achtundfünfzigjährige Frau namens Anna Duran, war wegen »allgemeiner Teilnahmslosigkeit« an Jeremy überwiesen worden.
    Zunächst fand Jeremy sie mürrisch. Statt sie aus der Reserve zu locken, goss er ihr lieber noch eine Tasse Tee ein, holte sich einen Kaffee, schüttelte ihre Kissen auf, setzte sich neben ihr Bett und wartete.
    Ihm war ziemlich egal, ob sie ihm antwortete oder nicht. Seit Jocelyn war das so. Er versuchte es nicht mal mehr.
    Und das Komische war, dass die Patienten auf seine Apathie reagierten, indem sie gesprächiger wurden.
    Seine Trauer hatte einen effektiveren Therapeuten aus ihm gemacht.
    Jeremy, der völlig von den Socken war, dachte ein wenig über die Sache nach und kam zu dem Schluss, dass die Patienten sein ausdrucksloses Gesicht und seine statuarische Haltung als eine Art ungerührter, zen-ähnlicher Gelassenheit wahrnahmen.
    Wenn sie nur wüssten …
    Als Anna Duran ihren Tee ausgetrunken hatte, war sie bereit zu sprechen.
    Was der Grund dafür war, dass Jeremy sich zwanzig Minuten nach Beginn einer kontrovers geführten Unterhaltung zwischen Mrs. Durans Onkologen und dem sie behandelnden Röntgentherapeuten gezwungen sah, den Mund aufzumachen. Beide Spezialisten waren wortgewandte, sehr engagierte, aber zu verbissene Männer mit den besten Absichten, die dazu neigten, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die Sache wurde dadurch noch komplizierter, dass sie sich nicht leiden konnten. An jenem Vormittag waren sie in eine zunehmend erhitzte Debatte über die Abfolge von Behandlungsschritten geraten, die den Rest der Anwesenden dazu veranlasste, ihre Armbanduhren zu konsultieren.
    Jeremy hatte beschlossen, sich rauszuhalten. Die Dienstagvormittage waren ein Ärgernis, seine Teilnahme das Ergebnis eines turnusmäßigen Wechsels, der ihn in eine zu große Nähe zum Tod brachte.
    Aber an jenem Morgen ließ ihn etwas auf die Beine springen.
    Die plötzliche Bewegung machte ihn zum Mittelpunkt des Interesses von fünfzig Augenpaaren.
    Der Onkologe hatte gerade eine Erklärung abgegeben.
    Der Röntgentherapeut, kurz davor, mit einer Erwiderung zu beginnen, wurde durch Jeremys Gesichtsausdruck davon abgehalten.
    Arthur Chess rollte den Leuchtstab zwischen den Händen. »Ja bitte, Dr. Carrier?«
    Jeremy wandte sich an die streitenden Ärzte. »Meine Herren, Ihre Auseinandersetzung mag ihre medizinische Berechtigung haben, aber Sie verschwenden Ihre Zeit. Mrs. Duran wird keiner Art von Behandlung zustimmen.«
    Metastasen des Schweigens bildeten sich.
    Der Onkologe sagte: »Und aus welchem Grund, Dr. Carrier?«
    »Sie hat zu niemandem hier Vertrauen«, erwiderte Jeremy. »Sie ist vor sechs Jahren operiert worden – Appendektomie mit postoperativer Sepsis. Sie ist überzeugt, dass das die Ursache für ihren Magenkrebs ist. Sie hat vor, das Krankenhaus auf eigene Verantwortung zu verlassen und sich einen Wunderheiler vor Ort zu suchen, einen
curandero

    Die Augen des Onkologen wurden hart. »Ist das so, Herr Kollege?«
    »Ich fürchte ja, Herr Kollege.«
    »Putzig und von einer bezaubernden Idiotie. Warum hat man mich davon nicht in Kenntnis gesetzt?«
    »Das hat man gerade getan«, antwortete Jeremy. »Sie hat es mir gestern gesagt. Ich habe eine Nachricht in Ihrem Büro hinterlassen.«
    Der Onkologe ließ die Schultern hängen. »Nun ja, dann … schlage ich vor, Sie kehren an ihr Bett zurück und überzeugen sie davon, dass das nicht in ihrem Sinne ist.«
    »Das ist nicht mein Job«, sagte Jeremy. »Sie sollte von Ihnen beraten werden. Aber offen gestanden glaube ich nicht, dass irgendjemand sie noch umstimmen
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