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Der Pathologe

Der Pathologe

Titel: Der Pathologe
Autoren: Jonathan Kellerman
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hätte, wenn es dem ehrlichen Abe vergönnt gewesen wäre, alt zu werden. Sein kahler Schädel hatte unter der grausamen Krankenhausbeleuchtung etwas geradezu mondähnlich Imposantes.
    Jeremy kannte Arthurs Ruf so, wie man sich des Lebenslaufs eines Fremden bewusst ist. Professor Chess, früher Chef der Pathologie, hatte sich vor einigen Jahren seiner administrativen Verpflichtungen entledigt, um sich auf die Forschung zu konzentrieren. Irgendwas mit bösartigen Bindegewebsgeschwülsten, den Minuzien der Durchlässigkeit von Zellwänden oder was auch immer.
    Arthur genoss auch den Ruf eines Weltreisenden und Amateur-Lepidopterologen. Seine Abhandlung über die Aas fressenden Schmetterlinge Australiens hatte in der Krankenhausbuchhandlung neben den üblichen Taschenbüchern mit Unterhaltungsliteratur ausgelegen. Jeremy war der einzelne Stapel schmutzig brauner Bände ins Auge gefallen, weil sie im Vergleich mit den Umschlägen reißerischer Bestseller trist aussahen. Der braune Stapel schien nie kleiner geworden zu sein; warum sollte ein Patient auch etwas über Insekten lesen wollen, die Leichen fraßen?
    Arthur vertilgte drei Bissen Hähnchenfleisch und legte die Gabel hin. »Ich hoffe wirklich, Sie halten mich nicht für aufdringlich, Dr. Carrier.«
    »Ganz und gar nicht, Dr. Chess. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
    »Behilflich?« Arthur wirkte amüsiert. »Nein, ich suche nur einen Gesprächspartner. Mir ist aufgefallen, dass Sie in aller Regel allein essen.«
    »Mein Dienstplan«, log Jeremy. »Absolut unberechenbar.« Seit sein Leben den Bach runtergegangen war, hatte er es vorgezogen, Gespräche nur noch mit seinen Patienten zu führen. Er war an dem Punkt angekommen, wo er den Freundlichen simulieren konnte. Aber manchmal, an den dunkelsten Tagen, war jeder zwischenmenschliche Kontakt schmerzhaft.
    Die kleinen Wendungen des Lebens …
    »Natürlich«, sagte Chess. »Angesichts der Art Ihrer Arbeit muss das ja wohl so sein.«
    »Sir?«, sagte Jeremy.
    »Die Unberechenbarkeit menschlicher Gefühle.«
    »Das stimmt.«
    Arthur nickte ernst, als hätten sie beide ein bedeutsames Einverständnis erzielt. Einen Augenblick später sagte er: »Jeremy – darf ich Sie Jeremy nennen? –, Jeremy, ich habe bemerkt, dass Sie diese Woche nicht an unserer kleinen dienstäglichen Zusammenkunft teilgenommen haben.«
    »Mir ist etwas dazwischengekommen.« Jeremy kam sich vor wie ein Kind, das man beim Schuleschwänzen ertappt hatte. Er rang sich ein Lächeln ab. »Unberechenbare Gefühle.«
    »Etwas, das sich klären ließ, hoffe ich?«
    Jeremy nickte. »Irgendwas Neues aus der T. K.?«
    »Zwei neue Diagnosen, ein Adenosarkom und eine CML. Die typische Präsentation, die übliche angeregte Diskussion. Um ehrlich zu sein, Sie haben nichts verpasst.«
    Unsere kleine dienstägliche Zusammenkunft
war die Tumor-Kommission. Ein allwöchentliches Ritual, von acht bis neun Uhr in dem größeren Konferenzzimmer, wo Arthur Chess eine Besprechung von Onkologen, Röntgentherapeuten, Chirurgen und Pflegepersonal mit Spezialausbildung leitete. Über einen Diaprojektor gebot, einen Leuchtstab schwang und sein umfangreiches Gedächtnis zum Einsatz brachte.
    Seit fast einem Jahr war Jeremy der Vertreter der geistigen Gesundheitsarmee gewesen. In der ganzen Zeit hatte er sich einmal zu Wort gemeldet.
    An seiner ersten T.-K.-Sitzung hatte er Jahre zuvor als Assistenzarzt teilgenommen und sie als ironische Absurdität empfunden: Dias von tumorverwüsteten Zellen
klick-klickten
auf einer riesigen Leinwand, die Bilder durch den Nikotindunst kaum zu erkennen.
    Mindestens ein Drittel der Krebsärzte und -schwestern qualmte eine nach der anderen.
    Jeremys Chef zu jener Zeit, ein erstaunlich aufgeblasener Psychoanalytiker, hatte eine Meerschaumpfeife freudianischen Ausmaßes umklammert und Latakiawolken in Jeremys Gesicht geblasen.
    Schon damals hatte Arthur die Zügel in der Hand gehabt, und er hatte nicht viel anders ausgesehen als heute, wie Jeremy erkannte. Der Leiter der Pathologie rauchte nicht, aber er legte auch kein Veto ein. Ein paar Monate später steckte eine reiche Gönnerin bei einer Führung durch das Krankenhaus den Kopf zur Tür herein und schnappte nach Luft. Kurz darauf erließ das Krankenhaus ein Rauchverbot, und die Stimmung auf den darauf folgenden T.-K.-Sitzungen war gereizt.
    Arthur trennte ein kleines Maisbrotquadrat von dem großen Stück ab und kaute nachdenklich. »Kein Verlust für Sie, Jeremy, aber ich bin fest
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