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Der Pathologe

Der Pathologe

Titel: Der Pathologe
Autoren: Jonathan Kellerman
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Drei, sechs. Jocelyns Mörder wurde nicht gefasst.
    Jeremy funktionierte nur noch mechanisch, konnte gehen und reden, aber er war verletzt. Sein Leben schrumpfte zu etwas Vertrocknetem und Sprödem zusammen. Er aß, ohne etwas zu schmecken, entleerte sich ohne Erleichterung, atmete Stadtluft ein und hustete, fuhr hinaus aufs Land oder ans Seeufer und war immer noch nicht in der Lage, den Hunger in seiner Lunge zu stillen.
    Menschen – Fremde, die plötzlich auftauchten – beunruhigten ihn. Physischer Kontakt mit anderen stieß ihn ab. Die Unterscheidung zwischen Schlaf- und Wachzustand wurde willkürlich, trügerisch. Wenn er sprach, hörte er seine eigene Stimme zurückprallen, hohl, hallend, bebend. Akne, die seit der Pubertät vergessene Pickelplage, brach auf seinem Rücken und auf seinen Schultern aus. Seine Lider begannen nervös zu zucken, und manchmal war er davon überzeugt, dass seine Poren einen bitteren Geruch verströmten. Andererseits schien niemand abgestoßen zu sein. Eigentlich schade – die Einsamkeit hätte ihm gut getan.
    Während all dieser Zeit besuchte er weiterhin Patienten, lächelte, spendete Trost, hielt Händchen, konferierte mit anderen Ärzten, legte Patientenkarten in seinem üblichen hastigen Gekrakel an, das die Schwestern zum Kichern brachte.
    Einmal bekam er zufällig mit, wie eine Patientin, die er nach einer bilateralen Mastektomie betreut hatte, mit ihrer Tochter im Gang sprach.
    »Das ist Dr. Carrier. Er ist so ein reizender Mann, der
wundervollste
Mann, den ich kenne.«
    Er schaffte es bis zur nächsten Herrentoilette, übergab sich, beseitigte alle Spuren und ging zu seinem nächsten Patienten.
    Sechs Monate später hatte er das Gefühl, als stünde er über allem, unter allem. Als stecke er in der Haut eines Fremden.
    Und fragte sich, wie es wohl wäre, zu degenerieren.

3
    Nach dem Gespräch im Speisesaal machte sich Jeremy darauf gefasst, dass Arthur Chess ihm bei der nächsten Sitzung der Tumor-Kommission irgendein Zeichen von Vertrautheit geben würde. Aber der Pathologe streifte ihn nur mit einem beiläufigen Blick, mehr nicht.
    Als die Sitzung zu Ende ging, unternahm Arthur keinen Versuch, sich mit ihm zu unterhalten, und Jeremy schrieb ihre Begegnung eher einem spontanen Impuls des älteren Mannes zu.
    An einem kalten Herbsttag verließ er das Krankenhaus um die Mittagszeit und ging zu einer antiquarischen Buchhandlung, die zwei Querstraßen weiter lag. Das Antiquariat war dunkel und eng und gehörte zu einem schmutzigen Häuserblock mit vielen Schnapsläden, Secondhandshops und leer stehenden Ladenlokalen. Ein merkwürdiger Häuserblock; manchmal witterte Jeremys Nase die Süße frischen Brotes, aber Bäckereien waren nirgends zu sehen. Manchmal roch er auch Schwefelsäure und Industrieabfälle, und auch für diese Gerüche konnte er keine Quelle entdecken. Er begann an seinem Geruchssinn zu zweifeln.
    Die Buchhandlung war voller Regale aus rohem Kiefernholz und roch nach Druckerschwärze. Jeremy hatte früher häufiger in ihren Ecken und Schatten herumgestöbert und nach alten Psychologiebüchern gesucht, die er sammelte. Schnäppchen zuhauf; es schien kein großes Interesse an Erstausgaben von Skinner, Maslow und Jung zu bestehen.
    Seit Jocelyns Tod war er nicht mehr in dem Laden gewesen. Vielleicht war es allmählich an der Zeit, die alte Gewohnheit wieder aufzunehmen, falls man es so nennen konnte.
    Die Fenster des Antiquariats waren schwarz, und kein Zeichen wies darauf hin, was für Geschäfte hinter ihnen stattfanden. Sobald man eintrat, ließ man die Welt hinter sich und konnte sich ungestört konzentrieren. Als Kunstgriff ziemlich wirkungsvoll, aber er hatte auch die Wirkung, Spontankäufe zu unterbinden; Jeremy hatte selten andere Kunden gesehen. Vielleicht wollte es der Besitzer nicht anders.
    Er war ein dicker Mann, der die Preise der verkauften Bücher mit einem finsteren Gesicht in die Registrierkasse eintippte, kein Wort sprach und sich betont misanthropisch gab. Jeremy war nicht sicher, ob es sich bei seiner Stummheit um eine bewusste Entscheidung oder um einen physischen Defekt handelte, aber er war sicher, dass der Mann nicht taub war. Im Gegenteil, beim kleinsten Geräusch spitzte der Dicke die Ohren. Auf Fragen von Kunden jedoch reagierte nur ein ungeduldiger Finger, der auf die gedruckte Anleitung neben der Eingangstür verwies: eine kaum zu entziffernde Improvisation, die auf Deweys Dezimalsystem beruhte. Wer nicht daraus schlau wurde, hatte
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