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Der Pathologe

Der Pathologe

Titel: Der Pathologe
Autoren: Jonathan Kellerman
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Manschette seines Kittels, unter der sich seine Armbanduhr befand. »Ich hab heute Nachmittag auch viel zu tun.« Bis zu seinem nächsten Patienten hatte er noch anderthalb Stunden.
    »Ah, selbstverständlich. Wie schade. Dann beim nächsten Mal.«
    »Unbedingt«, erwiderte Jeremy.
    Als er am selben Abend zu seinem Wagen ging, bemerkte er Arthur auf dem Ärzteparkplatz.
    Das geht zu weit. Ich werde verfolgt.
    Aber wie bei der Begegnung in dem Antiquariat war Arthur als Erster da gewesen, also war der Gedanke lächerlich. Jeremy schalt sich wegen seiner Aufgeblasenheit – von ihr bis zum Verfolgungswahn war es nur ein kleiner Schritt. War es so weit mit ihm gekommen?
    Er versteckte sich hinter einem Mast und sah zu, wie Arthur seinen Wagen aufschloss, einen schwarzen Lincoln, der mindestens fünfzehn Jahre alt war. Glanzlack, blitzende Zierleisten, gut gepflegt. Wie Arthurs Anzug: häufig benutzt, aber erstklassig. Jeremy stellte sich Arthurs Haus vor, vermutete, der Pathologe bewohne eins der vornehmen alten Häuser in Queen’s Arms auf der North Side, eine Gegend von schäbiger Eleganz mit einem Blick auf den Hafen.
    Ja, Queen’s Arms war eindeutig Arthur. Das Haus wäre entweder viktorianisch oder neogeorgianisch, altmodisch und gemütlich, voll gestopft mit gepolsterten Sofas mit verschlissenen Bezügen, massiven, hundert Jahre alten Mahagonimöbeln, verschiedenen Lagen Sesselschonern, Spitzendeckchen, Nippsachen, einer schönen Bar mit hervorragenden Schnäpsen.
    Aufgespießte Schmetterlinge in Schmuckrahmen.
    Ob der Pathologe verheiratet war? Das musste so sein. All diese Fröhlichkeit ließ auf ein angenehmes, beruhigendes Privatleben schließen.
    Definitiv verheiratet, entschied Jeremy. Führte seit Jahrzehnten eine glückliche Ehe. Vor seinem inneren Auge beschwor er eine Ehefrau mit blauem Haar, weichem Busen und einer Vogelstimme herauf, die ihren Arthur umsorgte.
    Er sah zu, wie der alte Mann sein langes Gestell in dem Lincoln verstaute. Als der Motor der großen Limousine mit einem sonoren Brummen ansprang, lief Jeremy zu seinem staubigen Nova.
    Er setzte sich hinters Lenkrad und dachte an das behagliche Heim, das auf Arthur wartete. Hausmannskost, einfach, aber sättigend. Ein kräftiger Drink, um die Blutgefäße zu erweitern und die Einbildungskraft zu befeuern.
    Die Füße hochgelegt, ein freundliches Lächeln auf den Lippen.
    Jeremys Magen verkrampfte sich, als der schwarze Wagen davonglitt.

4
    Auf den Tag genau zwei Wochen nach der Begegnung in der Buchhandlung wurde Jeremy von einer Assistenzärztin im zweiten Jahr angemacht, einer bezaubernden Brünetten namens Angela Rios. Er begleitete den behandelnden Arzt und verschiedene junge Anstaltsärzte auf ihrer Visite durch die pädiatrische Station. Dr. Rios, mit der er bislang nur höflichen Smalltalk gepflegt hatte, wich ihm nicht von der Seite, und er konnte das Shampoo in ihren langen dunklen Haaren riechen. Sie hatte einen Schwanenhals, ein feines, spitzes Kinn unter einem vollen, breiten Mund, und ihre Augen hatten die Farbe von Zartbitterschokolade.
    Vier Krankheitsfälle sollten an diesem Vormittag erörtert werden: ein achtjähriges Mädchen mit Dermatomyositis, ein jugendlicher Diabetiker, ein Säugling mit Gedeihstörung – wahrscheinlich ein Fall von Kindesmissbrauch – und ein frühreifer, wütender zwölfjähriger Junge mit einem winzigen Körper, der an Osteogenesis imperfecta litt.
    Der behandelnde Arzt, ein Mann namens Miller mit einer angenehmen Stimme, fasste die wesentlichen Daten zum Fall des verkrüppelten Jungen zusammen und übergab Jeremy das Wort. Jeremy sprach zu einer Schar junger, Rat suchender Gesichter, versuchte, den Jungen als Mensch vor ihnen erstehen zu lassen – seinen intellektuellen Horizont, seine Wut, die Schmerzen, die immer stärker werden würden. Er versuchte, diese jungen Ärztinnen und Ärzte dazu zu bringen, in dem Kind etwas anderes zu sehen als eine Diagnose. Und dabei sollten sie unpathetisch bleiben, um dem Virus der Selbstgerechtigkeit keine Chance zu geben, der die Soldaten der geistigen Gesundheitsarmee nur zu oft befiel.
    Seinen Bemühungen zum Trotz machte die Hälfte der Assistenzärzte einen gelangweilten Eindruck. Die anderen waren von einer fieberhaften Aufmerksamkeit, einschließlich Angela Rios, die Jeremy nicht aus den Augen ließ. Als die Visite vorüber war, blieb sie bei ihm und stellte Fragen zu dem verkrüppelten Jungen. Einfache Dinge, die Jeremys Ansicht nach für sie in
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