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Der Pathologe

Der Pathologe

Titel: Der Pathologe
Autoren: Jonathan Kellerman
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kann.«
    »Oh, tatsächlich?« Das Lächeln des Onkologen war bitter. »Sie ist bereit, zu ihrem Medizinmann zu gehen und dann den Löffel abzugeben?«
    »Sie glaubt, die Behandlung habe sie krank gemacht und mehr würde sie umbringen. Es handelt sich um ein Magenkarzinom. Was haben wir ihr denn wirklich anzubieten?«
    Keine Antwort. Jeder im Raum wusste, dass Magenkrebs in diesem Stadium keinen Anlass zu Optimismus gab.
    »Sie zu beruhigen ist nicht Ihr Job, Dr. Carrier?«, sagte der Onkologe. »Was genau
ist
dann Ihr Job, was die Tumor-Kommission angeht?«
    »Gute Frage«, sagte Jeremy. Und verließ den Raum.
    Er hatte mit einer Vorladung ins Büro des Chefarztes der Psychiatrie gerechnet, hatte erwartet, einen Verweis zu bekommen und von seinem Sitz in der Kommission entbunden zu werden. Aber nichts dergleichen geschah, und als er am nächsten Dienstag erschien, begegnete man ihm mit Blicken und Kopfnicken, die respektvoll zu sein schienen.
    Wenn du kein Interesse mehr an deinen Patienten zeigst, sind die Patienten eher bereit, mit dir zu reden.
    Wenn du den Alpha-Männchen Kontra gibst, steigst du in der Achtung deiner Kollegen.
    Die darin liegende Ironie stank zum Himmel. Von diesem Moment an fand Jeremy leichter Ausreden dafür, den Kommissionssitzungen fernzubleiben.
    »Die Sache ist die«, sagte Arthur, »wir zellulären Gesellen vertiefen uns so sehr in die Details, dass wir den Menschen, um den es geht, ganz aus dem Auge verlieren.«
    In deinem Fall geht es nicht mehr um einen Menschen.
    »Dr. Chess, ich habe nur getan, was meine Aufgabe war«, erklärte Jeremy. »Ich fühle mich wirklich nicht wohl bei dem Gedanken, als Schiedsrichter angesehen zu werden. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen.«
    »Natürlich«, erwiderte Arthur gelassen, während Jeremy sein Tablett wegräumte und den Speisesaal verließ. Und murmelte etwas, das Jeremy nicht verstehen konnte.
    Später, viel später, war Jeremy ziemlich sicher, dass er Arthurs Abschiedsworte entschlüsselt hatte:
    »Bis zum nächsten Mal.«

2
    Die Art, wie Jocelyn gestorben war – das Bild von ihr, wie sie litt –, war ein übler Belag auf Jeremys Gehirn.
    Man hatte ihm nie gestattet, den Polizeibericht zu lesen. Aber er hatte den Blick in den Augen der Detectives gesehen, hatte zufällig mitbekommen, was sie im Gang zu dem Fall gesagt hatten.
    Sexualpsychopath. Sadistisch. Einer für das Buch der Rekorde, Bob.
    Ihre Augen. Auf die Augen eines Detectives solchen Eindruck zu machen …
    Jocelyn Banks war siebenundzwanzig gewesen, klein, kurvenreiche Figur, temperamentvoll, redselig, blond, eine blauäugige Elfe, eine Quelle des Trostes für die alternden Patienten, um die sie sich kümmerte.
    Station 3 E. Die ihr hier eintretet, lasst alle Vernunft fahren.
    Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium, arthrosklerotische Senilität, eine Gruppe von Demenzen, nicht diagnostizierte Verwesung der Seele.
    Der Gemüsegarten, wie es die Neurologen nannten. Feinfühliger Haufen, die Neurologen.
    Jocelyn arbeitete in der Schicht von 15 bis 23 Uhr, versorgte leere Augen, schlaffe Münder und voll gesabberte Kinne. Fröhlich, immer fröhlich. Nannte ihre Patienten »Schatz« und »Süße« und »mein Hübscher«. Redete mit denen, die nie antworteten.
    Jeremy lernte sie kennen, als er zu einer Konsultation im Fall eines neuen Alzheimer-Patienten auf ihre Station gerufen wurde und das Krankenblatt nicht finden konnte. Die Stationssekretärin war missmutig und hatte die feste Absicht, ihm nicht zu helfen. Jocelyn trat dazwischen, und ihm wurde klar, dass dies die süße kleine Blondine war, die ihm in der Cafeteria aufgefallen war.
Dasgesichtdiebeinederhintern.
    Als er mit der Konsultation fertig war, ging er auf die Suche nach ihr, fand sie im Aufenthaltsraum der Schwestern und verabredete sich mit ihr. An jenem Abend war ihr Mund offen für seine Küsse, ihr Atem süß, obwohl sie italienische Gerichte mit viel Knoblauch gegessen hatten. Später sollte Jeremy diese Süße als ihr inneres Parfum kennen lernen.
    Sie gingen neun Wochen miteinander, bevor Jocelyn in Jeremys einsames kleines Haus einzog. Drei Monate danach raubte jemand in einer mondlosen Montagnacht kurz nach Jocelyns Schichtende ihren Toyota von dem zu dunklen Parkplatz der Aushilfsschwestern, der einen halben Häuserblock vom Krankenhaus entfernt lag. Und nahm Jocelyn gleich mit.
    Ihre Leiche wurde vier Tage später unter einer Brücke in den Shallows gefunden, einem Grenzdistrikt, der von den
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