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Der Palast

Der Palast

Titel: Der Palast
Autoren: Rowland
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Herzschlag sich beruhigt hatte und sie wieder klar denken konnte, begriff sie, was der Drachenkönig getan hatte.
    »Im Grunde seines Herzens war er ein Feigling«, sagte sie leise. »Er ließ Fürstin Keisho-in und die anderen Frauen von seinen Handlangern entführen. Er wollte, dass der Shōgun Hoshina für ihn hinrichtet. Dann griff er mich an, damit du ihn tötest, weil ihm der Mut fehlte, seppuku zu begehen. Er wollte hier sterben, anstatt die Schmach eines Prozesses, eines Skandals und einer öffentlichen Hinrichtung zu ertragen.«
    »Nun, er hat bewiesen, dass ein Feigling mehr Leid anrichten kann als ein mutiger Mann«, sagte Sano mit frostiger Stimme. Von seinem Schwert rann das Blut. »Wir brauchen seinen Tod nicht zu bedauern. Lass uns gehen. Vorerst kann er hier liegen bleiben«, fügte er mit Blick auf den Leichnam hinzu.
    Ehe sie den Palast verließen, beugte Reiko sich über den Altar und blies die Kerzen aus.
     
    Sano, Reiko und die Ermittler Inoue und Arai schritten durchs Palasttor auf den Hof. Der Platz war so hell erleuchtet und von so vielen lärmenden Menschen bevölkert wie ein Tempelplatz an einem Festtag. Der Rand des Hofes war mit Laternen gesäumt. Soldaten liefen umher oder versorgten leicht verwundete Soldaten. Sie tranken Sake aus Feldflaschen, während sie über ihre Heldentaten bei der Erstürmung der Insel berichteten. Andere bewachten die Handlanger des Drachenkönigs, die man gefangen genommen hatte und die nun mit gefesselten Händen und Füßen auf den Pflastersteinen kauerten. In der Mitte des Platzes saßen Hirata und Midori glücklich vereint mit ihrem Töchterchen. Neben ihnen lagen Marume und Fukida und schliefen tief und fest. Fürstin Keisho-in unterhielt General Isogai und das Heer mit Geschichten über ihr Abenteuer.
    Reiko ging zu Midori hinüber. Die beiden Frauen freuten sich, einander unversehrt in die Arme schließen zu können.
    Kammerherr Yanagisawa schritt auf Sano zu. »Einige unserer Männer suchen die Insel ab«, sagte er, »aber die meisten Entführer wurden offenbar gefangen genommen oder getötet. Habt Ihr Dannoshin gefunden?«
    Sano nickte. Die Beichte des Drachenkönigs erschütterte ihn noch immer. Er hatte geglaubt, alles über die Verbrechen des Mannes erfahren zu haben, ehe er auf der Insel eingetroffen war. Letztendlich aber hatte der Mord, der den Drachenkönig zu dem Massaker an der Tōkaidō und zu den Entführungen getrieben hatte, Dimensionen aufgedeckt, die Sano niemals für möglich gehalten hätte.
    »Ich habe ihn getötet«, sagte er.
    »Dann war unsere Mission ein Erfolg, und alles ist gut«, meinte Yanagisawa.
    Sano teilte diese Meinung nicht. Zahllose Fragen bedrängten ihn. Er fragte sich, was Reiko während der Gefangenschaft erlebt hatte, und er suchte seinen obersten Gefolgsmann in der Menge. Ihre Blicke trafen sich. Hiratas Lächeln erlosch, und er nahm eine abwehrende Haltung ein. Sano wusste, dass er Hirata ins Gebet nehmen musste, weil dieser seine Befehle missachtet hatte. Der Gedanke an die vor ihm liegenden Pflichten schmälerte seine Freude über den erfolgreichen Einsatz.
    Fürstin Keisho-in klatschte in die Hände. »Hört alle zu«, befahl sie. Als die Menge sich beruhigt hatte und aller Augen auf sie gerichtet waren, sagte sie: »Ich danke euch für meine Rettung. Aber jetzt solltet ihr keine Zeit mehr verschwenden, indem ihr auf euren Hinterteilen sitzt und euch zu dem Erfolg beglückwünscht. Ich halte es an diesem scheußlichen Ort nicht mehr aus. Lasst uns nach Hause gehen!«
    Die Rufe allgemeiner Zustimmung wurden jäh von Reiko unterbrochen. »Fürstin Yanagisawa fehlt«, sagte sie.
    Sano hatte die Gemahlin des Kammerherrn vollkommen vergessen – und alle anderen einschließlich des Kammerherrn offenbar auch. In der Menge entstand Unruhe, als die Retter begriffen, dass ihr Einsatz noch nicht beendet war. Sano wollte soeben die Suche nach Fürstin Yanagisawa einleiten, als Keisho-in rief: »Da ist sie!«
    Sano schaute in die Richtung, in die Fürstin Keisho-in zeigte. Das Haar zerzaust und die Kleidung zerknittert, stand Fürstin Yanagisawa wie erstarrt und mutterseelenallein am Waldrand und presste die Hände zusammen. Ihre argwöhnische Miene kündigte zukünftige Probleme an.
     

32.
    V
    ier Tage nachdem der Palast des Drachenkönigs gestürmt worden war, boten die Verkäufer in den heißen, lärmenden Straßen Edos Zeitungsblätter feil. »Die Mutter des Shōgun wurde aus den Händen des schändlichen
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