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Der Oligarch

Der Oligarch

Titel: Der Oligarch
Autoren: Daniel Silva
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noch keinen Überläufer – vor allem keinen russischen – erlebt, mit dem nicht von Zeit zu Zeit die Pferde durchgingen. Das passierte Grigorij an dem Tag, an dem der englische Premierminister bekannt gab, ein gefährlicher Terroranschlag sei verhindert worden. Anscheinend hatte die al-Qaida geplant gehabt, mit russischen Fla-Raketen – von Grigorijs ehemaligem Paten Iwan Charkow gekauft – mehrere Verkehrsflugzeuge abzuschießen. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden saß Grigorij vor BBC-Kameras und behauptete, bei diesem Unternehmen eine Hauptrolle gespielt zu haben. In den folgenden Tagen und Wochen war er in England und anderswo ein Dauergast im Fernsehen. Nachdem er so zu einer Berühmtheit geworden war, begann er sich in russischen Emigrantenkreisen zu bewegen und mit russischen Dissidenten jeglicher Couleur zu verkehren. Dass er plötzlich im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stand, verführte ihn dazu, seine neu gewonnene Berühmtheit als Plattform zu nutzen, um wilde Anschuldigungen gegen seinen alten Dienst und den russischen Präsidenten zu verbreiten, den er als einen angehenden Hitler bezeichnete. Als der Kreml mit finsteren Andeutungen über Russen reagierte, die auf englischem Boden einen Staatsstreich planten, empfahl Grigorijs Führungsoffizier ihm, sich etwas zu mäßigen. Das tat auch seine Lektorin, die noch ein paar Enthüllungen für das Buch aufheben wollte.
    Der Überläufer mäßigte sich widerstrebend, allerdings nur geringfügig. Statt sich weiter mit dem Kreml zu streiten, konzentrierte er seine beachtlichen Energien jetzt auf sein geplantes Buch und das Schachspiel. In diesem Winter nahm er an dem jährlichen Clubturnier teil und pflügte mühelos durch die Gruppe seiner Gegner – wie ein sowjetischer Panzer durch die Straßen von Prag, grollte eines seiner Opfer. Im Halbfinale setzte er den Titelverteidiger matt, ohne sich auch nur anstrengen zu müssen. Sein Turniersieg schien unvermeidlich.
    Am Nachmittag vor dem Finale aß er mit einem Journalisten der Zeitschrift Vanity Fair in Soho zu Mittag. Auf dem Nachhauseweg kaufte er bei Clifton Nurseries eine Topfpflanze und holte bei seiner Wäscherei in der Elgin Avenue einen Stapel Hemden ab. Nach einem kurzen Nickerchen, das zur Vorbereitung auf jede Partie gehörte, duschte er, zog sich sorgfältig an und verließ seine Wohnung wenige Minuten vor 18 Uhr.
    Was erklärt, weshalb Grigorij Bulganow, Überläufer und Dissident, am zweiten Dienstag im Januar um 18.12 Uhr auf der Londoner Harrow Road unterwegs war. Aus Gründen, die sich erst später klären würden, bewegte er sich in rascherem Tempo als gewöhnlich fort. Was das Schachturnier betraf war dieses inzwischen das Letzte, woran er dachte.
     
    Die Partie war für 18.30 Uhr im Clublokal, der Alten Sakristei der St. George’s Church in Bloomsbury, angesetzt. Simon Finch, Grigorijs Gegner, traf um 18.15 Uhr ein. Während er Wassertropfen von seinem Regenmantel schüttelte, las er mit zusammengekniffenen Augen die drei Mitteilungen am Schwarzen Brett. Eine verbot das Rauchen, eine andere warnte davor, den Korridor (Fluchtweg bei Brandgefahr!) zu blockieren, und eine dritte, die Finch selbst angepinnt hatte, forderte alle dazu auf, den eigenen Müll zur Wiederverwertung mit nach Hause zu nehmen. Wie George Mercer, Club Captain und sechsmaliger Club Champion, es ausdrückte, war Finch »ein Fundi aus Camden Town«, der alle politisch korrekten Überzeugungen seines Stammes zur Schau trug. Freiheit für Palästina. Befreit Tibet. Stoppt den Völkermord in Darfur. Truppenabzug aus dem Irak. Recycel oder stirb. Die einzige Sache, an die Finch nicht zu glauben schien, war Arbeit. Seiner eigenen Aussage nach war er ein »gesellschaftlicher Aktivist und freiberuflicher Journalist«, was Clive Atherton, der reaktionäre Schatzmeister des Clubs zutreffend mit »Gammler und Schnorrer« übersetzte. Aber selbst Clive gab bereitwillig zu, dass Finch wirklich wundervoll spielte: flüssig, künstlerisch, instinktiv und skrupellos wie eine Schlange. »Simons teure Ausbildung war nicht völlig umsonst«, sagte Clive gern, »nur falsch ausgerichtet.«
    Sein Nachname – Fink – beschrieb ihn nicht richtig, denn Finch war lang und träge, mit glattem braunem Haar, das ihm fast bis zu den Schultern reichte, und einer Nickelbrille, die den entschlossenen Blick des Revolutionärs vergrößerte.
    An das Schwarze Brett hängte er jetzt eine vierte Mitteilung – einen überschwänglichen
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