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Der Oligarch

Der Oligarch

Titel: Der Oligarch
Autoren: Daniel Silva
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Dankesbrief der Regent Hall Church, die dem Club dafür dankte, dass er das erste alljährliche Schachturnier der Heilsarmee für Obdachlose ausgerichtet hatte –, dann folgte er dem schmalen Gang zu der improvisierten Garderobe, wo er seinen Mantel an einen Kleiderständer auf Rollen hängte. In der kleinen Einbauküche warf er zwanzig Pence in ein riesiges Sparschwein und goss sich aus einer Thermoskanne mit der Aufschrift CHESS CLUB einen Becher lauwarmen Kaffee ein. Als er aus der Küche trat, rempelte er Young Tom Blakemore – auch ein irreführender Name, denn Young Tom war Ende achtzig – versehentlich leicht an. Finch schien das jedoch nicht einmal zu bemerken. Als Young Tom später vom MI5 vernommen wurde, sagte er aus, er habe ihm das nicht übel genommen. Schließlich habe kein einziges Clubmitglied Finch auch nur eine Außenseiterchance auf den Gewinn des Cups zugebilligt. »Er sah aus wie ein Mann, der zum Galgen geführt wird«, sagte Young Tom. »Nur die schwarze Kapuze hat noch gefehlt.«
    Finch betrat den kleinen Lagerraum und nahm aus durchgebogenen Regalen ein Schachbrett, eine Schachtel Figuren, eine analoge Turnieruhr und einen Spielbogen mit. Mit seinem Kaffee in der einen Hand und dem Spielzubehör in der anderen betrat er den größten Raum der Sakristei. Dieser hatte senfgelbe Wände und vier schmutzige Fenster: drei blinzelten auf die gepflasterte Little-Russell-Street, das vierte auf den Hof hinaus. An einer Wand hing unter einem kleinen Kruzifix der Spielplan. Nur eine Partie war noch zu spielen: S. FINCH VS. G. BULGANOW.
    Finch drehte sich um und begutachtete den Raum. Für den heutigen Spielabend waren sechs Platten zu Tischen aufgebockt worden: einer für das Finale, die übrigen für gewöhnliche Partien – »Freundschaftsspiele«, wie sie im Jargon des Clubs hießen. Als glühender Atheist wählte Finch den am weitesten von dem Kruzifix entfernten Platz und bereitete sich methodisch auf die Partie vor. Er kontrollierte die Spitze seines Bleistifts, dann notierte er Datum und Brettnummer auf dem Spielbogen. Er schloss die Augen und sah die Partie vor sich, wie sie sich hoffentlich entfalten würde. Dann, eine Viertelstunde nachdem er Platz genommen hatte, blickte er auf seine Armbanduhr. 18.42 Uhr. Grigorij verspätete sich. Merkwürdig, dachte Finch. Der Russe kam sonst nie unpünktlich.
    Finch fing in Gedanken an Steine vom Brett zu nehmen – sah einen König resigniert auf der Seite liegen, sah wie Grigorij beschämt den Kopf hängen ließ – und beobachtete dabei den unaufhaltsamen Marsch der Uhrzeiger.
    18.45 … 18.51 … 18.58 …
    Wo bist du, Grigorij?, dachte er. Wo zum Teufel steckst du?
     
    Letztlich würde Finchs Rolle unbedeutend und sein Auftritt nach Meinung aller Beteiligten dankbar kurz sein. Es gab einige, die sich seine teils bedauerlichen politischen Verbindungen gern etwas genauer angesehen hätten. Es gab andere, die sich weigerten, sich überhaupt mit ihm abzugeben, weil sie Finch korrekterweise als einen Mann einschätzten, der nichts mehr genießen würde als eine publikumswirksame Auseinandersetzung mit den Sicherheitsdiensten. Am Ende sollte sich jedoch zeigen, dass sein einziges Verbrechen eine Unsportlichkeit war. Denn um punkt 19.05 Uhr – diese Uhrzeit hatte er mit eigener Hand auf dem Spielbogen eingetragen – übte er sein Recht aus, den Sieg für sich zu beanspruchen, weil sein Gegner nicht angetreten war. So wurde er als erster Spieler Clubmeister, ohne einen einzigen Stein gezogen zu haben – eine zweifelhafte Ehre, die ihm die Schachspieler der britischen Geheimdienste nie verziehen.
    Ari Schamron, der berüchtigte israelische Meisterspion, würde später sagen, niemals zuvor habe ein so bescheidenes Ereignis zu so viel Blutvergießen geführt. Aber selbst Schamron, der manchmal zu rhetorischen Schnörkeln neigte, wusste recht gut, dass diese Bemerkung keineswegs zutreffend war. Denn die wahre Ursache der nun folgenden Ereignisse lag nicht in Grigorijs Verschwinden, sondern in einer Fehde, die Schamron selbst begonnen hatte. Grigorij, vertraute er seinen engsten Gefolgsleuten an, sei nur ein Schuss vor ihren selbstgefälligen Bug gewesen. Ein Signalfeuer auf einem fernen Wachtturm. Und der Köder, mit dem Gabriel aus der Deckung gelockt werden sollte.
    Am folgenden Abend befand sich nicht nur der Spielbogen, sondern der gesamte Turnierordner mit den Spielberichten im Besitz des MI5. Die Amerikaner wurden vierundzwanzig Stunden später von
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