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Der Oligarch

Der Oligarch

Titel: Der Oligarch
Autoren: Daniel Silva
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beschrieb ihn als Überläufer, den die Downing Street so dringend brauche wie ein undichtes Dach – denn in London, wo mittlerweile über eine Viertelmillion Russen lebten, sei wohl kaum noch Platz für einen weiteren Unzufriedenen, der es darauf anlege, dem Kreml Schwierigkeiten zu machen. Besagter MI5-Mann gab seine Prophezeiung, eines Tages würden sie alle bereuen, Grigorij Bulganow Asyl gewährt und ihm einen britischen Pass ausgestellt zu haben, sogar zu Protokoll. Aber selbst ihn verblüffte, wie rasch dieser Tag kam.
    Grigorij Bulganow, ehemals Oberst in der Abteilung Spionageabwehr des russischen Föderalen Sicherheitsdiensts, besser als FSB bekannt, war im Spätsommer des vergangenen Jahres an Land geschwemmt worden – ein unerwartetes Nebenprodukt einer multinationalen Geheimdienstoperation gegen einen gewissen Iwan Charkow, einen russischen Oligarchen und Waffenhändler. Nur eine Handvoll britischer Beamter kannte das wahre Ausmaß von Grigorijs Beteiligung an diesem Unternehmen. Noch weniger wussten, dass ohne sein beherztes Eingreifen ein ganzes israelisches Geheimdienstteam auf russischem Boden umgekommen wäre. Wie die KGB-Überläufer vor ihm verschwand Grigorij zunächst in einer Welt aus sicheren Häusern und einsam gelegenen Landsitzen. Ein angloamerikanisches Befragungsteam quetschte ihn Tag und Nacht aus, erst über die Struktur von Charkows Waffenschmuggelunternehmen, für den Grigorij schändlicherweise als bezahlter Agent gearbeitet hatte, dann über die Arbeitsweise seines ehemaligen Diensts. Die britischen Vernehmer fanden ihn charmant, die Amerikaner weniger. Sie bestanden darauf, ihn unter Druck zu setzen, was im Agency-Jargon bedeutete, dass er sich einem Lügendetektortest unterziehen musste. Er bestand ihn mit Bravour.
    Als die Vernehmer genug hatten und die Entscheidung getroffen werden musste, was letztendlich mit ihm geschehen sollte, berieten die Bluthunde der Abteilung Innere Sicherheit unter strengster Geheimhaltung darüber und gaben ihre Empfehlungen ab – ebenfalls strikt geheim. Am Ende gelangten sie zu dem Schluss, dass, auch wenn seine früheren Kameraden ihn beschimpften, Grigorij keine ernstliche Gefahr drohe. Selbst der einst gefürchtete Iwan Charkow, der in Russland seine Wunden leckte, schien zu keiner konzertierten Aktion imstande.
    Der Überläufer hatte drei Forderungen gestellt: Er wollte seinen Namen behalten, in London wohnen und nicht sichtbar bewacht werden. Auf diese Wünsche – vor allem den dritten – ging der MI5 bereitwillig ein. Personenschutz war teuer, und für das dafür notwendige Personal gab es bessere Verwendung, beispielsweise im Kampf gegen die einheimischen Dschihadisten. Man kaufte ihm in einer ruhigen Seitenstraße bei Maida Vale eine zu einem hübschen Wohnhaus umgebaute ehemalige Stallung, erteilte einen Auftrag für monatliche Zahlungen und überwies einen Einmalbetrag – der einen Skandal bewirkt hätte, wenn er publik geworden wäre – auf ein Londoner Bankkonto. Ein MI5-Anwalt handelte in aller Stille mit einem angesehenen Londoner Verlag einen Buchvertrag aus. Die Höhe des Vorschusses erstaunte die Führungskräfte beider Dienste, von denen viele an eigenen Büchern arbeiteten – natürlich im Geheimen.
    Eine Zeit lang schien sich Grigorij als der seltenste aller Vögel in der Geheimdienstwelt erweisen zu wollen: als ein Fall ohne Komplikationen. Mit fließendem Englisch stürzte er sich in das Londoner Leben wie ein entlassener Häftling, der verlorene Zeit wettmachen will. Er ging ins Theater und besuchte Museen. Dichterlesungen, Ballett, Kammermusik – für alles war er zu begeistern. Er arbeitete regelmäßig an seinem Buch und ging einmal in der Woche mit seiner Lektorin, die zufällig eine 32-jährige Schönheit mit Porzellanteint war, zum Lunch. In seinem neuen Leben fehlte ihm nur das Schachspiel. Sein MI5-Führungsoffizier schlug daher vor, er solle in den Central London Chess Club eintreten, eine im Ersten Weltkrieg von Staatsbeamten gegründete, altehrwürdige Vereinigung. Sein Mitgliedsantrag war ein Meisterstück an Unverbindlichkeit. Er gab keine Adresse, keine private Telefonnummer, keine Handynummer, auch keine E-Mail-Adresse an. Als Beruf trug er »Übersetzer«, als Arbeitgeber »selbstständig« ein. In das für sonstige Hobbys oder Interessen vorgesehene Feld schrieb er »Schach«.
    Andererseits sind Aufsehen erregende Fälle niemals ganz frei von Kontroversen, und die alten Hasen warnten, sie hätten
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