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Der Name Der Dunkelheit

Titel: Der Name Der Dunkelheit
Autoren: Daniel Scholten
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Seeungeheuer gehalten. »Wieso ist die Boje ein Auge?«
    »Sie heißt Odins Auge. «
    »Und warum müsst ihr sie ausgerechnet jetzt bergen? In der Weihnachtsnacht? Hier? An dieser Stelle, wo ich rudere?«
    »Wir fragen uns eher, warum du in der Weihnachtsnacht hier ruderst«, erwiderte der Mann, erhielt jedoch keine Antwort. »Sie ist kaputtgegangen. Irgendetwas hat sie getroffen und außer Gefecht gesetzt. Ich dachte gerade, du hast dir daran zu schaffen gemacht. Weil du hier treibst. In einem Kajak. In der Weihnachtsnacht.«
    »Ich hab mir fast in die Hose gemacht!«
    Ida und die Techniker tigerten unruhig am Ufer auf und ab. Sie konnten das Gespräch dort drüben nicht verstehen.
    »Es gibt sie überall im Fjord. Von der Schleuse stromaufwärts bis zum Fyrisån. Alle hundert Meter. Sie werden dicht über dem Grund an drei Seilen befestigt und messen allerlei Dinge. Wegen der Klimaerwärmung, weißt du. Der Pegel wird in den nächsten zwanzig Jahren dramatisch steigen. Reimersholme und das Stadthaus, das wird alles unter Wasser stehen.«
    »Verdammt, da wohne ich!«
    »Im Stadthaus?«
    »Auf Reimersholme, du Witzbold! Zum Glück im sechsten Stock.«
    »Der sechste Stock ist nicht betroffen.«
    Die alte Jansson im Ersten würde es sich in Zukunft dreimal überlegen, ob sie ihr Küchenfenster aufriss. Die Klimaerwärmung
hatte also auch ihr Gutes. »Was ist das denn für ein dämlicher Name? Odins Auge!«
    »Die Bojen heißen alle Odins Auge, obwohl Odin nur eines seiner beiden Augen am Brunnen der Erkenntnis geopfert hat, um durch einen Schluck daraus Allwissen über die Zukunft zu erlangen. Danach ist das Projekt benannt. Das hier ist Nummer 213.«
    »Und warum ist sie kaputt?«
    »Wissen wir nicht. Etwas muss sie getroffen haben. Ein Ventil wurde abgerissen. Kann das etwas mit eurem Picknick da drüben zu tun haben?«
    »Bestimmt nicht. Wir haben eine Selbstmörderin gefunden.«

3
    »Du hättest früher kommen sollen.«
    Damit meinte die Tanzlehrerin Anna Issaro nicht etwa Minuten, Stunden oder gar Tage. Sie meinte Jahre und eigentlich das ganze Leben.
    Sofi Johansson vermutete, dass das Kompliment weniger ihrem Talent galt, und schwieg deshalb. Welche Rolle spielte schon Talent, wenn man das Tanzen erst mit siebenundzwanzig Jahren in der Singlefrauengruppe begann! Als Kriminalinspektorin bei der Reichsmordkommission saß sie den lieben langen Tag am Schreibtisch. Sie hatte bloß etwas Würdevolleres als einen Fitnessclub zur Ertüchtigung gesucht und übte außerhalb der Stunden nur, wenn sie zufällig Lust darauf bekam. Aber im Sommer konnte es vorkommen, dass sie auf dem Heimweg unter einer Laterne herumhüpfte.
    Wenn Anna ihre Schüler lobte, klang das an guten Tagen wie Mitleid, an schlechten wie Hohn. Nur Sofi wurde nie gelobt.
Während der Stunde zischte Anna manchmal Sofis Namen, worauf sich Sofi drüben am anderen Ende der Stange augenblicklich zusammenriss, obwohl sie Ende zwanzig, Kriminalinspektorin und im Besitz zweier Schusswaffen war. In der vergangenen Woche hatte sich Anna sogar innerhalb einer einzigen Stunde viermal wegen Sofis Attitude bekreuzigen müssen. Keine andere Frau aus der Singlefrauengruppe vermochte bei Anna Issaro religiöse Gefühle zu wecken. Anna spürte anscheinend, dass das Ballett mittlerweile einen zweiten Sinn in Sofis Leben ergab. Sie tanzte als Einzige von den Schülern mit selbstzerstörerischem Eifer. Das war es, was Anna Issaro, die für andere Lebenswege als selbstzerstörerischen Eifer kein Verständnis hatte, so gefiel. Und an Ehrgeiz fehlte es Sofi gewiss nicht: Erst im April hatte sie sich beim Auswringen des Spülschwamms den kleinen Finger gebrochen.
    Sofi brauchte wie immer am längsten im Umkleideraum, und Anna Issaro hatte es sich angewöhnt, hereinzukommen und sich schicklich ans Fenster zu stellen und mit ihr zu plaudern.
    Sie hob sich elegant auf die Zehenspitzen, um über den Sichtschutz hinwegblicken zu können. »Feierst du mit deiner Familie?«
    »Ja«, log Sofi. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt, und ihre Mutter war vor Jahren in einer Nervenklinik an einem Hirnschlag gestorben. Danach hatte Anna bestimmt nicht fragen wollen. »Und du?«
    Anna seufzte. Sie stand so nah am Fenster, dass das Glas von ihrem Atem beschlug. »Ich bin katholisch. Da gibt es hier nicht viel zu feiern.«
    Das sah man schon daran, dass Anna die Montagsübungsstunde nicht ausfallen ließ, nur weil sie zufällig auf den Weihnachtsabend fiel. Und von den vierzehn Frauen war
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