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Der Name Der Dunkelheit

Titel: Der Name Der Dunkelheit
Autoren: Daniel Scholten
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machen möchtest.«
    Zum Glück war es Zeit für Ida, Lilly ins Bett zu bringen. So konnte er sich in Ruhe einkleiden. Eine Viertelstunde später trat er aus dem Haus. Die Nachbarn mit ihren Schneeschaufeln waren wieder im Haus verschwunden, so dass er mit dem langen Paddel nicht wie ein Idiot zurückwinken musste. Seine Hände steckten in dicken Handschuhen, und er hatte einige Mühe, den winzigen Schlüssel nicht fallen zu lassen. Den benötigte er für das Vorhängeschloss, mit dem das Boot an den Steg gekettet war.
    Zu seinem Erstaunen war es windstill. Als er jedoch auf dem schwimmenden Steg wankte, streifte eine Bö seine Wange und trieb ihm Schneekristalle in die Augen. Kjell erwog noch einmal, das Kajak lieber auf dem Landweg hinüberzutragen, aber über die beiden Brücken war es ein langer Umweg. Selbst wenn er das Boot an einer Schnur hinter sich herzog, würde er nach einer Ewigkeit völlig erschöpft ankommen.

    Das Schloss ließ sich leicht öffnen, aber als er an der Kette zog, fiel sie scheppernd auf den Steg. Er fegte den Schnee vom Kajak und hob es aus dem Ständer. Vielleicht lag es an seinem Widerwillen, dass es sich viel schwerer anfühlte als im Sommer.
    Im ersten Stock des Hauses wurde ein Fenster aufgerissen. Die alte Jansson steckte ihren Kopf heraus. »Wo willst du denn hin?«, rief sie aufgebracht. Auf sie war immer Verlass.
    »Das ist ein freies Land!«, ächzte er und zwängte seine Beine ins Boot. Und jeder darf während eines verschneiten Weihnachtsabends dorthin rudern, wohin es ihm passt, fügte er flüsternd hinzu. Er wollte sich in nichts verwickeln lassen. »Frohe Weihnachten noch!«, rief er und drückte sich ab.
    Das Boot glitt ins schwarze Wasser. Unter den Blicken der alten Jansson trieb er einige Sekunden lang bewegungslos dahin. Noch immer plagte ihn die Sorge, das Boot könnte ein Leck haben. Nach dem zweiten Paddelschlag kam er sich lächerlich vor und warf einen Blick zurück zum Haus. Im sechsten Stock hatte es sich Ida am offenen Küchenfenster bequem gemacht. Sie winkte, als sie entdeckte, dass er zu ihr hochsah.
    Er legte sich in die Riemen und kam schnell voran. Seine Befürchtung, er würde binnen einer Minute zu frieren beginnen, bestätigte sich nicht. Nachdem er in die Dunkelheit des Kanals zwischen Reimersholme und Långholmen eingetaucht war, verringerte er seine Geschwindigkeit. Der Schnee schwebte in winzigen Kristallen vom Himmel. Zwischen den Paddelschlägen hörte er sie auf der Oberfläche des Wassers knistern.
    Die längliche kleine Insel Långholmen lag nördlich der kugelrunden kleinen Insel Reimersholme, und der Kanal dazwischen maß nur zehn Meter in der Breite. Per befand sich jedoch am entgegengesetzten Nordufer, in zweihundert Metern
Entfernung von Kjells Haus. An diese zweihundert Meter Luftlinie hatte Per wohl gedacht, als er seinen wahnsinnigen Plan ersann. Auf dem Wasserweg musste Kjell allerdings zuerst das halbe Südufer entlangrudern, die Westspitze umrunden und dann dieselbe Strecke am Nordufer zurücklegen. Dadurch verlängerte sich die Entfernung um das Fünffache.
    An der Westspitze schlug ihm steifer Wind vom Fjord entgegen, der sich nach der Wende allerdings als hilfreich erwies. Auf der Westbrücke, die den Fjord in riesigem Bogen überspannte, war der Verkehr bis auf zwei Schneepflüge, die mit gelben Scheinwerfern von den beiden Enden der Brücke aufeinander zusteuerten, zum Erliegen gekommen.
    Endlich lichteten sich die Bäume. Das Ufer öffnete sich zu einer Bucht. Der Sandstrand war nicht einmal fünfzig Meter breit und lag in der Nacht sonst verlassen und unbeleuchtet da. Nun waren die Bäume geisterhaft beschienen. Kjell hatte die mobilen Strahler erwartet, mit denen die Kriminaltechniker einen Tatort gewöhnlich wie ein Stadion ausleuchteten. Hier mussten sie sich wegen der Witterung mit weniger zufriedengeben. Oberhalb der Wiese parkten drei Autos mit eingeschalteten Scheinwerfern, und unten standen Techniker um die Stelle und hielten wie kleine, zitternde Freiheitsstatuen Handlampen in die Höhe.
    Niemand am Ufer entdeckte das rote Kajak. Das Geschehen am Strand war so unwirklich, dass Kjell das Rudern vergaß und lautlos dahintrieb.
    Der Sonnenschirm stand gleich bei dem schräg wachsenden Baum, an dem Kjell im Sommer manchmal seine Badehose zum Trocknen aufhängte. Darunter saß eine Frau in einem Liegestuhl. Aus der Ferne sah es aus, als blickte sie zu ihm. Der Wind hatte einen Wall aus Schnee um den Liegestuhl geweht.
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