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Der Name Der Dunkelheit

Titel: Der Name Der Dunkelheit
Autoren: Daniel Scholten
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abschüssigen und gebogenen Straße nicht, sondern verschlimmerte alles. Auch der entgegenkommende Wagen bremste, so gut es ging, und geriet ebenfalls ins Schlingern. Fünfzig Meter, dreißig Meter, zehn Meter. Von allen Sicherheitsvorrichtungen, die die Autoindustrie in den vergangenen zwei Jahrzehnten erfunden hatte, besaß der Mirafiori keine einzige. Sofi streckte ihre Arme aus, zog die Füße zu sich und drückte den Kopf gegen die Lehne. Der Aufprall blieb aus. Sie öffnete ihre Augen. Der andere Wagen stand so dicht vor ihr, dass seine Scheinwerfer unter ihrer Kühlerhaube verschwanden. Aus dem Fenster der Beifahrertür ragte ein geschnürter Weihnachtsbaum.
    Der Fahrer öffnete die Tür. Auch Sofi stieg aus. Dem Mann sah man an, dass der Beinahe-Unfall eine den ganzen Tag dauernde Gehetztheit von ihm genommen hatte. Jetzt war alles egal, sagte er sich mit einem Seufzen. Sie riskierten einen Blick zwischen die Stoßstangen. Da passte kein Finger mehr dazwischen.
    »Heute ist nicht mein Tag!«, brummte der Mann und sah auf.

    »Meiner auch nicht!«
    »Frohe Weihnachten!«
    »Dir auch!«
    Als Sofi den Motor wieder anließ, hatte der andere schon zurückgesetzt und wendete in der Einfahrt. Sofi musste weit vom Haus entfernt parken. An der Wohnungstür waren ihre Finger vor Kälte so steif, dass sie den Schlüssel nicht ins Schloss bekam. Hinter ihrem Rücken wurde die Nachbartür aufgerissen.
    »Ich hab gedacht, dass du zu Hause bist«, rief Eufrat. »Weil alle Lichter in deiner Wohnung brennen.«
    »Das muss an Weihnachten so sein, damit es im kommenden Jahr keine Todesfälle gibt.«
    »Seid ihr abergläubisch bei der Polizei?«, kicherte Eufrat. Sie war zwölf und dünn wie eine gut gewickelte Webspindel. Ihre Mutter war Busfahrerin und hatte heute Abend offenkundig keinen Dienst, denn aus der Küche schwebte ein orientalischer Duft ins Treppenhaus.
    »Das ist eine alte schwedische Sitte.«
    Die Mutter kam aus der Küche und winkte mit ihrem Pfannenheber. Sofi hatte die Mutter noch nie ohne den Pfannenheber gesehen.
    »Arbeitest du nicht?«, fragte Sofi. »Bei uns müssen die Moslems an Weihnachten immer dran glauben.«
    »Wir sind syrische Christen«, erklärte Eufrat und schüttelte den Kopf. »Deswegen sind wir ja hier und nicht in Syrien!«
    »Dann frohe Weihnachten.«
    »Ich habe dir deine Weihnachtskarte durch den Briefschlitz geworfen.« Die Mutter fand, dass Eufrat den Erlöser an seinem Geburtstag nicht beleidigen sollte, indem sie wie ein Flittchen im Treppenhaus herumlungerte, und trieb sie mit dem Pfannenheber in die Wohnung zurück.
    Sofi schloss ihre Tür und bückte sich nach dem Kuvert.
Aber da lagen gleich zwei. Sie legte die Weihnachtspost auf den Tisch und ging in die Küche. Sie hatte sich Hering vorbereitet. Der wartete auf dem Backblech, und Sofi musste nur noch den Ofen einschalten und ein bisschen warten. Die Hälfte dessen, was von der Reisgrütze am Mittag übrig war, stellte sie wie in ihrer Jugend auf den Balkon, um den Weihnachtsmann bei Laune zu halten. Aus der anderen Hälfte wurde Reis à la Malta für den Nachtisch. Mit einem Glas Punsch nahm sie am Tisch Platz.
    Das rote Kuvert entpuppte sich als Eufrats Weihnachtskarte. Das Nachbarsmädchen hatte Sofi eine feste Rolle in ihrem Leben zugewiesen, als Ersatz für eine ältere Schwester.
    Das zweite Kuvert enthielt eine Zeichnung. Bei näherer Betrachtung konnte Sofi daran nichts Weihnachtliches entdecken. Es war ein Porträt von ihr. Kein Porträt, ihr ganzer Körper war darauf zu sehen, laufend, mit wehendem Rock und wehendem Haar. Aber es stellte ohne Zweifel sie dar. Sofi drehte und wendete den Umschlag. Nirgendwo ließ sich erkennen, von wem die Zeichnung stammte. Eine Briefmarke gab es nicht.
    Sofi klingelte bei Eufrat. Die Mutter öffnete und rief dann Sofis Frage in den Flur.
    Eufrat kam angerannt. »Bist du dumm, oder was? Das rote!«
    Sofi kehrte in ihre Wohnung zurück.
    Das Bild war mit Tusche gezeichnet und sehr hübsch. Sofi dachte für eine Sekunde an Linda Cederström, die Tochter ihres Chefs. Linda war eine eifrige und talentierte Malerin, aber sie wohnte jetzt weit entfernt in Wien und zeichnete auch ganz anders. Sonst kannte Sofi keinen Menschen, der so zeichnen konnte.

DIENSTAG 25. DEZEMBER

4
    Inspektorin Snæfríður Jómundardóttir zeichnete mit der Fußspitze unsichtbare Buchstaben auf den Boden. Seit zwanzig Minuten saß sie schon auf den Stufen des Treppenhauses und wartete. Es war erst neun Uhr.
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