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Der Nachtwandler

Der Nachtwandler

Titel: Der Nachtwandler
Autoren: Sebastian Fitzek
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öffnen.«
    Er unterstrich seine Aussage mit erhobenem Zeigefinger. »Über tausend Jahre hinweg mussten Ärzte und Wissenschaftler für ihre Sektionen Leichen von Friedhöfen stehlen und diesen Forscherdrang oft mit dem eigenen Leben bezahlen. Die Kirche hatte Angst, die Lüge der Bibel würde ans Licht kommen, wenn man erkannte, dass Adam nicht die besagte Rippe fehlte, aus der Eva angeblich geschnitzt war. Damals waren es die Pfaffen, heute sind es andere Gutmenschen, die dem Fortschritt im Wege stehen.«
    Die Krankenschwester zu seiner Seite schnaubte verächtlich und hörte für einen kurzen Moment auf, die Katze auf ihrem Schoß zu streicheln.
    Ivana Helsing war schon etwas älter, aber eine seiner zuverlässigsten Hilfskräfte, wenn es um die sorgfältige Umsetzung der Experimente ging. Außerdem hatte sie ihn mit den von Boytens bekannt gemacht, was Volwarth ihr mit bedingungsloser Loyalität dankte, auch wenn sie gelegentlich dazu neigte, die Versuchsobjekte zu vermenschlichen. Den »lieben Leon«, wie sie ihn gerne nannte, hatte sie über die Zeit derart ins Herz geschlossen, dass sie am Ende sogar für einen Abbruch des Experiments plädiert hatte. Heute war sie glücklich und zufrieden, dass er überlebt hatte, obwohl Leon auf ihre unterschwelligen Versuche, ihn zum Verlassen des Hauses zu bewegen, nicht reagiert hatte. Zu Natalie hingegen hatte sie keine Beziehung aufgebaut. Zum Glück. Wenn man einen Durchbruch in der Medizin erzielen wollte, durfte man nicht zimperlich sein. Objekte wie Natalie und Leon waren in diesem Zusammenhang nichts anderes als Tiere im Labor. Wer den Verlust eines Schimpansen emotional nicht verkraften konnte, war in der Forschung fehl am Platz.
    »Jeder, der ungenehmigte Menschenversuche durchführt, muss mit der Ächtung durch Ignoranten rechnen«, erklärte Volwarth selbstgefällig.
    Es war ein Teufelskreis, den er seinen Mitstreitern nicht weiter auszuführen brauchte. Natürlich forderte die Standesethik eine Einwilligung des Probanden. Aber Schlafstörungen waren Anomalien des Unterbewusstseins. Sobald das Versuchsobjekt davon wusste, dass es beobachtet wurde, änderte sich automatisch das zu untersuchende Verhalten. Niemand schlief im Labor wie zu Hause. Genau aus diesem Grund waren Parasomnien kaum erforscht und die Ergebnisse, die in herkömmlichen Schlaflaboratorien gewonnen wurden, so ungenügend. Versuchsreihen, in denen Gewaltexzesse von Nachtwandlern provoziert wurden, waren undenkbar.
    »Indem wir Leon Nader für ein gesamtes Jahr glauben ließen, er würde in seiner gewohnten Umgebung leben, konnten wir auf dem Gebiet der Somnambulismusforschung bahnbrechende Entdeckungen machen«, sagte Volwarth stolz.
    Drei Jahre Planung. Von der Auswahl des Objekts bis zum Bezug des Labors: Sein verstorbener Patient Albert von Boyten, den er bis zu dessen Tod in einer Anstalt betreut hatte, war der Schöpfer höchst eigenartiger architektonischer Meisterwerke gewesen, die Volwarth hervorragend zupasskamen. Über den Globus verteilt hatte von Boyten Mietshäuser mit einer geheimen Zwischenebene konstruiert. Der geniale Architekt, ein Kriegskind und Kommunist, hatte sie ursprünglich als Verstecke für politisch Verfolgte geschaffen, doch sie eigneten sich auch vortrefflich als Schlaflaboratorien, in denen man die Patienten nicht nur beobachten, sondern auch gezielten Reizimpulsen aussetzen konnte.
    Die Wohnungen waren durch geheime Gänge verbunden, mit denen man sich jederzeit Zutritt verschaffen konnte, um Versuchsmaterialien hinein- oder herauszutransportieren, während der Proband entweder im Haus unterwegs war oder schlief.
    Die Schlafphasen, die Leons nachtwandlerische Aktivitäten umrahmten, waren glücklicherweise äußerst stabil, wie häufig bei Patienten mit derartigen Störungen. Sie sorgten für die notwendigen Zeitfenster, in denen die Forscher ihre Versuchsreihen akribisch vorbereiten konnten, zum Beispiel, indem die bearbeiteten Videos auf Leons Laptop überspielt wurden. Schwieriger war die Nachbereitung der jeweiligen Experimentstufen gewesen. Hier musste der Grundzustand in Leons Wohnung wiederhergestellt werden, also zum Beispiel der Schrank (der sich mit einem Elektromagneten fixieren ließ) zurückgeschoben, die Stirnbandkamera versteckt und der Laptop ausgeschaltet werden. Denn sobald Leon erwachte, durfte nichts mehr an seine nächtlichen Aktivitäten erinnern.
    Die Tiefschlafphasen waren sogar von einer solchen Intensität gewesen, dass Leon in ihnen
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