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Der Mythos des Sisyphos

Der Mythos des Sisyphos

Titel: Der Mythos des Sisyphos
Autoren: Albert Camus
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wäre er versöhnt. Entdeckte das Denken im Wechselspiel der Erscheinungen ewige Beziehungen, die sie und das Denken selbst einem einzigen Prinzip unterordnen, dann könnten wir von einem Glück des Geistes sprechen, an dem gemessen der Mythos der Seligen nur ein lächerliches Surrogat wäre. Dieses Heimweh nach der Einheit, dieses Verlangen nach dem Absoluten enthüllt das wesentliche Agens des menschlichen Dramas. Nur bedeutet das tatsächliche Vorhandensein dieses Heimwehs nicht, daß es unverzüglich gestillt werden müsse. Denn wenn wir den Abgrund zwischen Wunsch und Erfüllung überspringen und mit PARMENIDES die Wirklichkeit des (wie immer es beschaffen sein möge) behaupten, dann geraten wir in den lächerlichen Widerspruch eines Geistes, der die totale Einheit behauptet und gerade durch die Behauptung sein eigenes Anderssein und die Mannigfaltigkeit beweist, die er angeblich aufgehoben hat. Dieser weitere circulus vitiosus genügt, um unsere Hoffnungen zunichte zu machen,

Heimweh und Unwissenheit

    Auch diese Tatsachen sind unabweisbar. Ich wiederhole noch einmal: sie sind nicht an sich interessant, sondern nur in den Konsequenzen, die daraus gezogen werden können. Noch etwas anderes ist klar: der Mensch ist sterblich. Man kann jedoch die Köpfe zählen, die daraus die letzten Schlüsse gezogen haben. Es gilt zu sehen, daß in diesem Versuch immerfort Bezug genommen wird auf das ständige Ineinandergleiten dessen, was wir zu wissen glauben, und dessen, was wir wirklich wissen, des praktischen Einverständnisses und der vorgetäuschten Unwissenheit, die bewirkt, daß wir mit Vorstellungen leben, die, wenn wir sie wirklich auf die Probe stellten, unser ganzes Leben erschüttern müßten. Gerade angesichts dieses unentwirrbaren geistigen Widerspruchs werden wir die Kluft völlig begreifen, die uns von unseren eigenen Schöpfungen trennt. Solange der Geist in der reglosen Welt seiner Hoffnungen schweigt, spiegelt und ordnet sich alles zu jener Einheit, die sein Heimweh ersehnt. Bei seiner ersten Regung aber wird diese Welt brüchig, sie stürzt ein, und wir haben es mit einer Unzahl schillernder Bruchstücke zu tun. Wir müssen es verzweifelt aufgeben, aus ihnen jemals die vertraute, ruhige Oberfläche, die uns den Frieden des Herzens geben würde, wiederherzustellen. Nach jahrhundertelangem Forschen, nach der Resignation so vieler Denker wissen wir genau, daß das auf unser ganzes Wissen zutrifft. Außer den berufsmäßigen Rationalisten verzweifelt man heute an der wahren Erkenntnis. Wollte man die einzig gültige Geschichte des menschlichen Denkens schreiben, so würde es die Geschichte seiner fortgesetzten Reue und seiner Ohnmacht werden.
    Von wem oder wovon kann ich tatsächlich behaupten: Das Herz in mir kann ich fühlen, und ich schließe daraus, daß es existiert. Die Welt kann ich berühren, und auch daraus schließe ich, daß sie existiert. Damit aber hört mein ganzes Wissen auf; alles andere ist Konstruktion. Wenn ich nämlich dieses ich, dessen ich so sicher bin, zu fassen, wenn ich es zu definieren und zusammenfassend zu bestimmen versuche, dann zerrinnt es mir wie Wasser zwischen den Fingern. Ich kann nacheinander alle Gesichter nachzeichnen, die es annehmen kann, auch alle Gesichter, die man ihm gegeben hat - Erziehung, Herkunft, Leidenschaft oder Ruhe, Größe oder Niedertracht. Addieren aber kann man Gesichter nicht. Selbst dieses Herz, das doch meines ist, wird mir immer unerklärbar bleiben.
    Die Kluft zwischen der Gewißheit meiner Existenz und dem Inhalt, den ich dieser Gewißheit zu geben suche, ist nie zu überbrücken. Ich werde mir selbst immer fremd bleiben. In der Psychologie wie in der Logik gibt es Wahrheiten, aber keine Wahrheit. Das des SOKRATES ist ebensoviel wert wie das unserer Beichtstühle. Beide Aussprüche verraten Heimweh und gleichzeitig Unwissenheit. Das sind unfruchtbare Spielereien mit großen Dingen. Sie sind nur genau in dem Maße berechtigt, als sie annähernd gemeint sind.

Auch das Denken führt nicht weiter

    Bäume gibt es außerdem, deren runzlige Rinde ich kenne, und Wasser, dessen Geschmack ich koste. Dieser Grasduft und Sternenschein, die Nacht, Abende, an denen das Herz weit wird - wie könnte ich die Welt leugnen, deren Macht und Stärke ich erfahre? Trotzdem gibt mir alles Wissen über diese Erde nichts, was mir die Sicherheit gäbe, daß diese Welt mir gehört. Man kann sie mir
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