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Der Mythos des Sisyphos

Der Mythos des Sisyphos

Titel: Der Mythos des Sisyphos
Autoren: Albert Camus
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gewissen Augenblicken in einem Spiegel begegnet, der vertraute und doch beunruhigende Bruder, den wir auf unseren eigenen Photographien sehen, ist wiederum das Absurde.

Die blutige Mathematik, die über uns herrscht

    Endlich komme ich auch zum Tode und zu unserem Gefühl ihm gegenüber. Darüber ist schon alles gesagt worden, und wir haben uns davor zu hüten, pathetisch zu werden. Man kann jedoch nie genug darüber staunen, daß jeder so lebt, als ob niemand . Tatsächlich haben wir vom Tode keinerlei Erfahrung. Erprobt im eigentlichen Sinne hat man nur, was man erlebt und bewußt gemacht hat. Es ist also ganz richtig, soweit es möglich ist, von der Erfahrung beim Tode der anderen zu sprechen. Das ist Notbehelf, eine geistige Anschauung, die uns nie sehr überzeugt. Diese trübselige Konvention kann nicht überzeugend sein. Das Grauen rührt in Wirklichkeit von der rechnerischen Seite des Ereignisses her. Die Zeit erschreckt uns mit ihrer praktischen Lektion, die Lösung kommt erst hinterher. Alle schönen Gespräche über die Seele bekommen hier, wenigstens vorübergehend, einen neuen Beweis ihres Gegenteils. Aus dem leblosen Körper, auf dem eine Ohrfeige kein Mal mehr hinterläßt, ist die Seele verschwunden. Diese elementare und endgültige Seite des Abenteuers ist der Inhalt des absurden Gefühls. Im tödlichen Licht dieses Verhängnisses tritt die Nutzlosigkeit in Erscheinung. Keine Moral und keinerlei Streben lassen sich a priori vor der blutigen Mathematik rechtfertigen, die über uns herrscht.
    Noch einmal: all dieses ist immer wieder gesagt worden. Ich beschränke mich hier auf eine flüchtige Klassifizierung und auf die Andeutung dieser unabweisbaren Themen. Sie spielen in der gesamten Literatur und in allen Philosophien eine Rolle. Auch das tägliche Gespräch lebt von ihnen. Es handelt sich nicht darum, sie aufs neue zu entwickeln. Wir müssen nur dieser evidenten Tatsachen sicher sein, um uns über die Grundfrage verständigen zu können. Ich wiederhole es noch einmal: mich interessiert nicht so sehr die Entdeckung des Absurden wie deren Konsequenzen. Wenn man dieser Tatsachen sicher ist - was muß man aus ihnen schließen? Wie weit muß man gehen, um nirgends auszuweichen? Muß man freiwillig sterben oder trotz alledem hoffen? Zuvor jedoch müssen wir dieselbe flüchtige Überprüfung auf der Ebene des Verstandes vornehmen.

Bedürfnis nach Klarheit

    Der erste Schritt des Geistes besteht darin, zwischen Wahrem und Falschem zu unterscheiden. Dennoch ist die erste Entdeckung des Denkens, das über sich selbst reflektiert, ein Widerspruch. Es wäre eine unnötige Mühe, hier noch Überzeugendes zu sagen. Seit Jahrhunderten gibt es hierüber keine klarere und elegantere Darlegung als die des ARISTOTELES:
    Dieser circulus vitiosus ist nur der erste in einer Reihe, bei welcher der sich selbst betrachtende Geist in einen schwindelnden Wirbel gerät. Gerade die Einfachheit dieser Paradoxe macht sie unauflösbar. Wie die Wortspiele und die logischen Kniffe auch aussehen mögen - verstehen heißt vor allem zusammenfassen. Das tiefe Verlangen des Geistes stößt selbst bei seinen verwegensten Schritten noch auf das unbewußte Gefühl des Menschen vor seinem Universum: das Bedürfnis nach Vertrautsein, das Verlangen nach Klarheit. Die Welt verstehen heißt für einen Menschen: sie auf das Menschliche zurückführen, ihr ein menschliches Siegel aufdrücken. Die Welt der Katze ist nicht die Welt des Ameisenbären. Nichts anderes besagt der Gemeinplatz: So kann der Geist, der die Wirklichkeit begreifen will, erst dann zufrieden sein, wenn er sie auf Denkbegriffe zurückführt. Wenn der Mensch erkennen würde, daß auch das Universum lieben und leiden kann, dann
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