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Der Mythos des Sisyphos

Der Mythos des Sisyphos

Titel: Der Mythos des Sisyphos
Autoren: Albert Camus
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genau. Ist diese Antwort aber aufrichtig, stellt sie den sonderbaren Seelenzustand dar, in dem die Leere beredt wird, die Kette alltäglicher Gebärden zerrissen ist und das Herz vergeblich das Glied sucht, das sie wieder zusammenfügt - dann ist sie gleichsam das erste Anzeichen der Absurdität.
    Dann stürzen die Kulissen ein. Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden Büro oder Fabrik, Essen, Straßenbahn, vier Stunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhythmus - das ist sehr lange ein bequemer Weg. Eines Tages aber steht das da, und mit diesem Überdruß, in den sich Erstaunen mischt, fängt alles an. - das ist wichtig. Der Überdruß ist das Ende eines mechanischen Lebens, gleichzeitig aber auch der Anfang einer Bewußtseinsregung. Er weckt das Bewußtsein und bereitet den nächsten Schritt vor. Der nächste Schritt ist die unbewußte Umkehr in die Kette oder das endgültige Erwachen. Schließlich führt dieses Erwachen mit der Zeit folgerichtig zu der Lösung: Selbstmord oder Wiederherstellung. An sich hat der Überdruß etwas Widerliches. Hier jedoch muß ich zu der Überzeugung kommen, daß er gut ist. Denn mit dem Bewußtsein fängt alles an, und nur durch das Bewußtsein hat etwas Wert. Diese Feststellungen sind keineswegs originell. Sie liegen vielmehr auf der Hand, und für eine summarische Bekanntschaft mit den Ursprüngen des Absurden genügen sie einstweilen. Die einfache ist, wie HEIDEGGER es ausdrückt, aller Dinge Anfang.
    So trägt uns im Alltag eines geruhsamen Lebens die Zeit. Stets aber kommt ein Augenblick, da wir sie tragen müssen. Wir leben auf die Zukunft hin: , , , . Diese Inkonsequenzen sind bewundernswert, ,denn schließlich müssen wir ja doch sterben. Es kommt ein Tag, da stellt der Mensch fest, daß er dreißig Jahre alt ist. Damit beteuert er seine Jugend. Zugleich aber bestimmt er seine Situation, indem er sich in Beziehung zur Zeit setzt. Er nimmt in ihr seinen Platz ein. Er erkennt, daß er sich an einem bestimmten Punkt einer Kurve befindet, die er - dazu bekennt er sich durchlaufen muß. Er gehört der Zeit, und mit jenem Grauen, das ihn dabei packt, erkennt er in ihr seinen schlimmsten Feind. Ein Morgen wünscht er sich, ein Morgen, während doch sein ganzes Selbst sich dem widersetzen sollte.Dieses Aufbegehren des Fleisches ist das Absurde 7 .

Verfremdung

    Eine Stufe tiefer, - und die Verfremdung ergreift uns: die Wahrnehmung, daß die Welt ist, die Ahnung, wie sehr ein Stein fremd ist, undurchdringbar für uns, und mit welcher Intensität die Natur oder eine Landschaft uns verneint. In der Tiefe jeder Schönheit liegt etwas Unmenschliches, und diese Hügel, der sanfte Himmel, die Konturen der Bäume - sie verlieren im Augenblick den trügerischen Sinn, mit dem wir sie bedachten, und liegen uns von nun an ferner als ein verlorenes Paradies. Die primitive Feindseligkeit der Welt, die durch die Jahrtausende besteht, erhebt sich wieder gegen uns. Eine Sekunde lang verstehen wir die Welt nicht mehr: jahrhundertelang haben wir in ihr nur die Bilder und Gestalten gesehen, die wir zuvor in sie hineingelegt hatten, und nun verfügen wir nicht mehr über die Kraft, von diesem Kunstgriff Gebrauch zu machen. Die Welt entgleitet uns: sie wird wieder sie selbst. Die gewohnheitsmäßig maskierten Kulissen werden wieder was sie wirklich sind. Sie rücken uns fern. Wie es Tage gibt, an denen man unter dem vertrauten Gesicht einer Frau jene andere wie eine Fremde wiederentdeckt, die man vor Monaten oder Jahren geliebt hatte, so werden wir uns vielleicht gerade das wünschen, was uns plötzlich so einsam macht. Aber so weit ist es noch nicht. Eines nur: diese Dichte und diese Fremdartigkeit der Welt sind das Absurde.
    Auch die Menschen sondern Unmenschliches ab. In gewissen hellsichtigen Stunden läßt das mechanische Aussehen ihrer Bewegungen, ihre sinnlos gewordene Pantomime alles um sie herum stumpfsinnig erscheinen. Ein Mensch spricht hinter einer Glaswand ins Telephon, man hört ihn nicht, man sieht nur sein sinnloses Mienenspiel: man fragt sich, warum er lebt. Dieses Unbehagen vor der Unmenschlichkeit des Menschen selbst, dieser unberechenbare Sturz vor dem Bilde dessen, was wir sind, dieser , wie ein zeitgenössischer Schriftsteller es nennt, ist auch das Absurde. Auch der Fremde, der uns in
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