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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher
Autoren: Hartmut Fladt
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Geschichte Verbotskataloge zu verzeichnen, von Päpsten oder geistlichen und weltlichen Herrschern jeglicher Couleur. Das geht bis in die unmittelbare Gegenwart. Und die Verbote trafen noch im 20. Jahrhundert so harmlos scheinende Genres wie den Tango und den Ragtime (»sexuell aufreizend«), Blues, Swing und Jazz (u. a. »rassisch verdächtig«, »entartet«), Avantgarde (bei Hitler und Stalin besonders »politisch verdächtig«, »intellektuell zersetzend«). Im aufgeklärtenFrankreich der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts versuchte Präsident Giscard d’Estaing, der Marseillaise ein hymnisch-würdiges, langsames Tempo zu verordnen, um den aufrührerischen Elan dieses Revolutionsliedes einzudämmen. Doch die Musik erwies sich als stärker als die Bedenkenträger des staatlichen Repräsentationspathos.
    Die Leier des Orpheus blieb uns, wie sein Mythos, erhalten: Wir können sie als Sternbild am Nachthimmel bewundern. Die E-Gitarre des Jimi Hendrix wurde dort allerdings bisher nicht identifiziert.
    Was bedeutet Musik, für mich ganz persönlich, für die Leser dieses Buches? Sie bewegt, sie befreit emotional, hat verschiedenste (auch bedrohliche!) Funktionen: Sie kann Jubel, Weinen, Gänsehaut, Fröhlichkeit, Schock, Mit-Leiden auslösen, Nachdenklichkeit, Freude, Trauer, Gelassenheit und Ausgelassenheit, Ekstase, bescheidenes Vergnügen, Empörung: Schon die antike Temperamenten- und Affekten-Lehre gab darüber Auskunft (vgl. das Kapitel »Kopf und Bauch«).
    Musik provoziert Bewegung: mit und zur Musik arbeiten, tanzen, marschieren, singen: allein, in der Gruppe, in der Masse, mit sehr unterschiedlichen Beweggründen. Und dann gibt es noch die, die auf den Hügel nach Bayreuth pilgern, im Schlamm in Woodstock stecken; sie besuchen die Philharmonie, Rock- und Popkonzerte oder Clubs, die von Cerberus-Höllenhunden (Türstehern) bewacht sind. Wir singen im Chor, klimpern Beethovens FÜR ELISE auf dem Keyboard, spielen mit großer Geste Luftgitarre, bedienen sogar semiprofessionell Musikinstrumente – sei es in der Band, sei es im Orchester. Wir lieben die Musik.
    Wir können bestimmte Stücke, bestimmte Interpreten absolut nicht leiden. Einige stilistische Richtungen kommen uns furchtbar vor. Wir hassen diese Musik.
    Zum Abschluss dieser Introduktion nun noch ein Kleines Polaritätsprofil von Großen Begriffen und Definitionen der Musikund der Wirkungen von Musik. Apoll und Dionysos lassen immer wieder grüßen, auf beiden Seiten. Und die Übergänge zwischen »links« und »rechts« sind viel fließender, als es uns die Grafik suggeriert. Diese Polaritäten zeigen aber auch die beiden Seiten der Musik selbst und die meines eigenen Musikhörens und Musikverstehens: die Seite des Enthusiasten und die Seite des kritischen Skeptikers .
Musik in der Enthusiasten-Perspektive
Musik in der Skeptiker-Perspektive
1. Musik verleiht den tiefsten, den existentiellsten Gefühlen Ausdruck. Auch grenzenloser Überschwang, Glückstaumel, ja Rausch sind durch die Musik nobilitiert, in allen ihren Genres. »Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum« (Friedrich Nietzsche).
2. Musik übertüncht mit oberflächlicher Sauce alle Konflikte. Sie wird als gigantisches Ablenkungsmanöver eingesetzt, um Menschen mit ihren miserablen Situationen zu versöhnen. Überschwang und Rausch betäuben nur, in allen Genres der Musik.
3. Musik lässt Gemeinschaftsgefühle entstehen und verstärkt Gewissheiten z. B. des Glaubens, der sozialen und politischen Überzeugungen, der humanistischen Haltungen.
Musik zeigt Ethos-Charakter.
4. Musik lässt Gemeinschaftsgefühle entstehen und ist so permanent missbrauchbar. Militärmusik, Repräsentationsmusik, Nazi-Gesänge, Hymnen, Fan-Gegröle produzieren »blindes« Einverständnis. Musik zeigt dumpfes Pathos.
5. Musik ist autonom. Sie ist nur sich selbst und der Wahrheit ihrer Haltungen und der Gefühle verpflichtet. Sie stärkt ihre Hörer in ihrem Selbstbewusstsein. Sie ist essentiell »Geist der Utopie« (Ernst Bloch). Wes Brot ich ess, des Lied sing ich noch lange nicht.
6. Musik ist heteronom, weniger vornehm: Sie ist eine Hure, dem Zahlungskräftigsten verpflichtet. Gegen Geld verkauft sie alles, was ihr wert und wichtig sein könnte – auch sich selbst, auch ihre Hörer. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.
7. Musik fordert und fördert die Selbstbestimmung, die Ichstärke. »Alle Menschen werden Brüder« (Schiller/Beethoven). Musik verkörpert den Geist der Aufklärung, des Menschenrechts, der
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