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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher
Autoren: Hartmut Fladt
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gegenüber bestimmten Musikarten. Man verbindet sie mit bestimmten Eigenschaften, man projiziert Dinge in sie hinein. Das aber verhindert denuneingeschränkten und den unvoreingenommenen Genuss, das Erleben von unterschiedlichster Musik. Es beschneidet ihre Kraft, ihre Möglichkeiten. Dem kann abgeholfen werden: durch Wissen. Es gibt keine »guten« und »schlechten« Musikrichtungen, es gibt nur gute und schlechte Musik. Und über Qualitätskriterien muss immer wieder neu nachgedacht werden.
    So wie Gefühle das Wissen verändern können, so verändert Wissen die Gefühle. Und ich höre Musik anders, weil ich sie adäquater verstehe . Auch im Bereich von Blues und Jazz, von Rock- und Popmusik höre ich anders, wenn ich mir spezifisches neues Wissen angeeignet habe und nicht in meinen Vorurteilen befangen bleibe (die habe auch ich, wenn ich mich an meine Bemerkung gerade über bestimmte Arten des Hiphop erinnere).
    Musikhören tendiert fast naturwüchsig zur sogenannten Intentionalität: Ich projiziere in ein gehörtes Stück alle meine gebündelte Erfahrung hinein – ich glaube mich frei beim Hören, bin aber in Wirklichkeit heftig konditioniert.
    Melodische und harmonische Wendungen, Rhythmen, Figurationen, die seit etwa 500  Jahren üblich sind, bleiben bis zum heutigen Tage verständlich, auch wenn sie im »modernen Gewande« versteckt sind. Aber man muss die Vokabeln kennen, die Redewendungen, die Gefühlskoordinaten . In der Regel eignet man sich so etwas an wie die Muttersprache – man wächst hinein, man beherrscht auch sehr komplexe Phänomene, ohne sich über die theoretischen Grundlagen von Grammatik oder Syntax Rechenschaft ablegen zu müssen.
    Als Paul McCartney gefragt wurde, warum er in ELEANOR RIGBY das Dorische und das Äolische – zwei sehr alte »Kirchentonarten« – gleichermaßen verwende, soll er die klassische Antwort gegeben haben: »Hä?« (Bei solchen Anekdoten gilt in der Regel: »gut erfunden« ist wichtiger als »wahr«.) Nach anderer Überlieferung soll John Lennon auf die Frage nach dem »Äolischen« geantwortet haben: »Sind das nicht diese griechischenInseln?« Auch wenn die beiden Pilzköpfe die Fachbegriffe nicht kannten: das musikalische Vokabular, die musikalischen Mittel beherrschten sie und konnten kreativ mit ihnen verfahren.
Im Symphoniekonzert. Musikerleben und Schreiben über Musik.
    Ich sitze in der Philharmonie in Berlin. Mit etwa 2200 Zuhörern fast ausverkauft. Neben mir einer der weltweit berühmtesten Musikwissenschaftler. Und ich merke, wie er »ergriffen« wird von der Musik (Johannes Brahms), gepackt, manchmal geschüttelt – und dann ein leises, glückliches Aufseufzen usw. usw. Und dann lese ich seine Publikationen über eben diese Musik, und das sind grandiose Texte, wissenschaftlich erstrangig, und sie sagen nichts, nichts darüber, wie er diese Musik erlebt, wie sie ihn bewegt.
    Ich weiß aber, gestählt durch die Kritische Theorie 6 , dass in der Regel auch das emotionale Erleben und die Vorlieben insgeheim den doch so rationalen wissenschaftlichen Diskurs prägen – bei Jürgen Habermas gehört das zum »erkenntnisleitenden Interesse« 7 . Ein offenes Bekenntnis zu meinen Vorlieben erschien und erscheint mir in meinen Publikationen immer –  auch wissenschaftstheoretisch – ehrlicher als derVersuch, durch »Objektivität« die Zuneigung zu leugnen.
Im Popkonzert. Muss Musikerleben mit Musik zu tun haben?
    Nach dem Wissenschaftler ein kleines Kontrastprogramm. Wiederum aber ein Konzert für den größeren Rahmen: in der Halle diesmal etwa 9000 Fans. Ich bin nicht dabei; schon das mänadische Kreischen der Girlies macht mir Angst, in Erinnerung an das Schicksal des Orpheus. Ein Ausflug zur Gruppe Tokio Hotel mit den Zwillingsbrüdern Bill und Tom Kaulitz (deren Musik übrigens viel besser ist, als uns das die bornierten Klischees von bestimmten Rock-Pop-»Fachleuten« weismachen wollen; vgl. die Analyse auf S. 300). Da werden also dietypischen Girlie- oder Teenie-Fans gefragt: Wie hat euch die Musik gefallen? Antwort: »Bill ist sooo süß!!!« Das ist eine bewundernswerte synästhetische Leistung: aus dem Bauch heraus hören, dass jemand süß ist.
    Jetzt soll man aber nicht glauben, dass das Bauchgefühl eines normalen Besuchers der Salzburger Festspiele anders ist, der zu Anna Netrebko geht – der hat nur ein anderes Vokabular. Man will nicht Mozart oder Verdi hören und erleben, sondern man geht zur Netrebko; war ja schließlich teuer
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