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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher
Autoren: Hartmut Fladt
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genug. Und süß ist sie auch.
    Schon in den späten sechziger Jahren war die Musik der »Stones« gar nicht so wichtig; es waren die imperialen Posen von Mick Jagger, die die testosterongesättigten Allmachtsphantasien der männlichen Jugend beflügelten.
    In der gleichen Zeit ging das bildungsbeflissene Bürgertum in die Philharmonie zum Imperator Herbert von Karajan. Die testosterongesättigten Allmachtsphantasien der vielen Ko-Imperatoren im Publikum konnten dort beispielsweise bei Richard Wagner oder in Symphonien von Anton Bruckner ausgelebt werden.
    All das ist völlig in Ordnung und bedeutet keineswegs, wir hätten es bei Fans von Pop- und Rockmusik mit Musikbanausen und bei Musikwissenschaftlern und »Profis« mit den echten Musikfans zu tun. Oder umgekehrt. Im Gegenteil:
    Jede Art von musikalischer Sinnlichkeit und Praxis, und das gilt sogar für die volkstümlichen Musikanten, baut auf irgendeiner Form von Reflexion und Theorie auf, und wenn diese noch so unentwickelt (oder oft auch unbewusst) ist.
    Dies ist nun ein zentrales Anliegen dieses Buches: Ich möchte gern die Selbstverständlichkeiten durchschaubar (oder besser: durchhörbar) machen, mit denen man normalerweise an Musik herangeht.
    Unmittelbarkeit und Spontaneität von Gefühlen sind eine sehr schöne und auch wichtige Sache, aber sie genügen nicht. Oft ist zu hören: Ich fühle das so – an dieser Stelle der Symphonieoder des Songs habe ich diese oder jene Assoziation – und man glaubt sich frei bei diesen Reaktionsweisen. Was aber geschieht wirklich? Man projiziert in das Gehörte seine eigenen gespeicherten und gebündelten Erfahrungen hinein, und das meist unhinterfragt. Man ist an seine Vorurteile gekettet, ohne es zu merken.
    Das hörende Subjekt ist zugleich informations verarbeitend und informations schaffend, so erklärt uns die Kognitionspsychologie. Jedes Hören ist gleichzeitig auch eine bewusstseinsgeleitete, bisweilen sogar unbewusste Konstruktion des gehörten Gegenstandes . Diese Mechanik ist unvermeidbar, aber man muss sie begreifen, um aktiv eingreifend mit ihr umgehen zu können. Das gilt für jede Art des Musikhörens, für den Fan von Tokio Hotel genauso wie für den Musikwissenschaftler.
    Von Goethe stammt der schöne Satz: »Es hört doch jeder nur, was er versteht.« 8
    Der uralte, immer neu tradierte und sogar beschworene Widerspruch zwischen Theorie und Praxis ist falsch. Wie lautet das Standardzitat aus dem Schatzkästlein des deutschen Bildungsbürgertums: »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie.« Das ist eine arge Verkürzung. »Und grün«, so geht nämlich das Faust-Zitat weiter, »des Lebens goldner Baum.« Alle, die ihren Goethe vermeintlich so treu zitieren, verkennen die ungeheure Ironie, die schon in der schiefen Farbenmetaphorik deutlich wird (Grau, Grün, Gold – was für eine eklige Flagge!) – es ist Mephisto, der diese Spießbürgerweisheit verkündet, der »Geist, der stets verneint«, das zur Theaterfigur gewordene Prinzip der dialektischen Negation .
    Zu den populären Vorurteilen gehört es, dass Musik eine »Gefühlssprache des Herzens« sei, die alle Menschen verstehen. Das ist und bleibt Unsinn. Um eine Sprache zu verstehen, muss ich natürlich Vokabeln kennen, Redewendungen, grammatikalische Strukturen; kennen muss ich aber ebenso sprachliche Gesten und »Gefühlstransmitter«.
Im Theater. Musikerleben in einer fremden Kultur und das Phänomen der »zweiten Unmittelbarkeit«
    Gern berichte ich immer wieder von einem japanischen »Ur-Erlebnis«: Ich sitze im No-Theater, das ich interessiert zur Kenntnis nehme, ohne den Bedeutungscode von theatralischen und musikalischen Elementen zu kennen (also Instrumentenfarben, melodische Wendungen, Rhythmus, Sprachtonfälle etc.); ein Japaner neben mir zuckt bei bestimmten Ereignissen in der Musik zusammen, er leidet mit, er bekommt Schweißausbrüche, er freut sich – ich sitze da und verstehe (fast) nichts. Ich brauche, paradox gesagt, Wissen, um vernünftig fühlen zu können. Ich muss, ganz allgemein, die »kommunikativen Codes« kennen, und diese Codes gibt es auf allen Ebenen: im Wissen, im Denken, im Fühlen. Nachdem ich mir Wissen über das No-Theater angeeignet hatte (mit Hilfe von japanischen Schülern und Freunden), war mein Erlebniszugang zu diesem theatralischen Gesamtkunstwerk sehr viel tiefer, sogar spontan sinnlicher.
    Durch neu erworbenes Wissen verändere ich meine Gefühle. Wenn die erste, spontane Unmittelbarkeit des
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