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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher
Autoren: Hartmut Fladt
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»Schrei der Unmittelbarkeit« (à la Obelix) erinnert mich an die Kinderfrage aus den Sponti-Kinderläden: Was müssen wir denn heute wieder dürfen? Anders gesagt: Spontaneität und Kreativität brauchen feste Anknüpfungspunkte, an denen sie sich entzünden und entfalten können. Das gilt für Vokalimprovisation um 1500 ebenso wie für den von Improvisation geprägten Jazz und für jegliches Komponieren. Jede Jazzimprovisation beruht auf einem über Jahre erarbeiteten praktischen und auch theoretischen Wissen. Und sie braucht ihre Verabredung (die kann auch wortlos geschehen), sie braucht ihren kommunikativen Code, sie braucht eine gemeinsame Basis, auf der eine individuelle Spontaneität überhaupt erst sich entfalten kann und für uns sinnlich erfahrbar wird. Es gibt, selten genug, auch gelungene Formen von Free Jazz, aber die Regel waren die Lärmorgien eines seiner Hauptvertreter, Peter Brötzmann, bei denen jeder Musiker seine Klischees reproduzierte. Das Motto lautete in der Regel: Sechs Personen schreien durcheinander, um sich gegenseitig davon zu überzeugen, dass sie nichts zu sagen haben.
    Miles Davis lieferte viele wunderbare Beispiele dafür, wie spontan, wie improvisiert Jazz klingen kann, der aber doch auf einem Fundament souveränen Wissens und Könnens ruht. Das Abrufen dieses Wissens während der Improvisation wurde dann so selbstverständlich, dass es auch für ihn selbst fast ungebunden-frei erschien. Und sein Wissen war nicht allein jazzspezifisch: Er beschäftigte sich auch mit der Musik von Igor Strawinsky, Béla Bartók und Arnold Schönberg.
    Von Joseph Haydn ist überliefert, dass er sich morgens meist etwa eine Stunde ans Klavier gesetzt und improvisiert hat. Vertraute Wendungen, Generalbass- und Partimento-Improvisationsmuster, dann aber ungewöhnliche Folgen, und an all dem entzünden sich dann neue Ideen, neue Verknüpfungsmöglichkeiten, neue musikalische Gestalten. Nun hat Haydn aber nicht etwa seine Improvisationen einfach aufgeschrieben, sondern nur einzelne Teilmomente, die ihm für die Komposition wichtig waren. Diese spontan gefundenen Klänge, im unmittelbar sinnlichen Umgang mit dem Klang entstanden, werden dann dem Kompositionsprozess unterworfen. Und im Kompositionsprozess finden wir noch einmal, jetzt auf höherer Ebene, das produktive Verhältnis von Kreativität und Rationalität wieder, gleichsam geadelt durch das, was Haydn selbst als »Compositionswissenschafft« bezeichnete.
    Dieses eng verzahnte Wechselverhältnis von kreativer Spontaneität und handwerklicher und rationaler Kontrolle ist auch in den Genres von Blues, Rock, Pop, Folk, Techno, Electro House, Rap/Hiphop etc. grundlegend. Allerdings spiegelt häufig ein arbeitsteiliges Produktionsverhältnis diese beiden Seiten: Für die handwerkliche und rationale Kontrolle ist in der Regel ein Producer zuständig.
    Aber auch Producer sollen schon von kreativen Schüben heimgesucht worden sein, und bei den ideengebenden Songwritern soll es durchaus schon Anwandlungen von handwerklichem und rationalem Ethos gegeben haben.

4. Da ist der Wurm drin
Über Ohrwürmer und Haken (mit kleiner Formenlehre, Intervall- und Harmonie-Lehre)
    Kurzanalysen: Doldinger TATORT-TRAILER; The Beatles SHE LOVES YOU, BABY, YOU CAN DRIVE MY CAR; Bata Illic MICHAELA
    Meist sind es ja Melodiefragmente, die angeflogen kommen, sich festsetzen und sich mit freundlicher Hartnäckigkeit weigern, wieder zu gehen. Weil das Gefühl vorherrschte, da sei etwas »ins Ohr gekrochen« –  allen vornehmen Kognitionswissenschaften zum Trotze –, wurde ein anschauliches Lebewesen erfunden: der »Ohrwurm«. Dieser Begriff wanderte als »earworm« auch ins Englische aus; verbreitet ist aber ebenso der sich »im Ohr« festkrallende Haken, der »Hook«. Im Ohr aber krallt sich natürlich gar nichts fest – das ist nur eine schöne Metapher.
    Die Kognitionspsychologie macht stattdessen die entsprechenden Regionen des Gehirns verantwortlich. Aber auch das ist nur ein Teil des komplexen Gesamtgefüges: Das »Festkrallen« im Gehirn erfolgt an Angeborenem, ebenso aber an Erfahrenem, an Gelerntem. Die Tatsache, dass »Ohrwürmer« beispielsweise aus der arabischen oder der indonesischen Musikkultur beim mitteleuropäischen Hörer absolut wirkungslos sind, obwohl auch sie in seinen entsprechenden Gehirnregionen ankommen, spricht für die wesentlich kulturelle Bedingtheit des Phänomens.
    Beim Reden über Musik allerdings sind Metaphern wunderbar anschaulich, und
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