Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher
Autoren: Hartmut Fladt
Vom Netzwerk:
dürfe. »Drah di net um«, so sang warnend der Wiener Kollege Falco – aber Orpheus, rationaler Apolliniker und ein Gegner des blinden Vertrauens, drehte sich um. So verlor er Eurydike endgültig.
    Dass es auch Mythosversionen mit Happy End gibt, sei wenigstens erwähnt; aber, wie schon Kurt Tucholsky wusste, wird »beim Happy End jewöhnlich abjeblendt«, und ein Unhappy End rührt und bessert das verehrte Publikum viel nachhaltiger. »Katharsis« nannte das schon die antike Dramentheorie.
    Orpheus drohte in Depression zu versinken. Aber Popstar bleibt Popstar, und die antike Öffentlichkeit verlangte nach einem Comeback und gierte nach den Details der Unterwelt-Story. Orpheus trat wieder auf, und bei einem Open-Air-Festival ereilte ihn schließlich ein Schicksal, das auch heutigen Rock- und Popstars ohne Polizeischutz droht: Er wurde zerrissenvon kreischenden dionysischen Mänaden, enthemmten weiblichen Fans, die offensichtlich mehr von ihm wollten als nur schöne Songs und eine schöne Stimme.
    Mit diesem mythologischen Schicksal vor Augen (und Ohren) verzichteten die Beatles schon lange vor ihrer endgültigen Trennung auf Live-Auftritte. Bei den mehrstimmigen Vokalsätzen von Tokio Hotel hört man immer eine imaginäre Zusatzstimme: die Angst singt mit. Auch wenn es bei dem Gekreische der mänadischen Fans schwerfällt, sie wirklich zu verstehen: Zu spüren ist sie.
    Dieser Mythos – gereinigt von den wuchernd-assoziierenden Zutaten aus der Gegenwart – ist ein »Gründungsmythos« der Musik und ihrer Wirkungen. Über Jahrhunderte gab und gibt es immer wieder neue Varianten dieses Sujets, mit dem das Faszinosum »Musik« so eindringlich auf den Punkt gebracht wird, mit all seinen so lebendigen Widersprüchen.
    »Orpheus« – unter diesem Namen firmieren u. a. eine Opernzeitschrift, ein Musikadressenverzeichnis, eine Rockband, ein Salonorchester, ein Unternehmen für Musikreisen und ein Swinger-Club (offensichtlich Orpheus für Dionysiker). Franz Liszt komponierte eine Symphonische Dichtung, Igor Strawinsky ein Ballett, Orfeu Negro ist eine brasilianische Filmadaption des Stoffes mit Latin Jazz von Jobim und Bonfá, Liedermacher wie Reinhard Mey und Popstar Nick Cave schrieben Song-Adaptionen (diese Liste könnte mühelos noch erheblich erweitert werden). Claudio Monteverdis Orfeo (1607) etablierte die Gattung »Oper«, in der das Wunderbare immer eine eminente Rolle spielt und die alle Gesetze der Logik gern verletzen darf, erst wirklich.
    Nach zahlreichen weiteren Orpheus-Opern, die sämtlich das apollinisch-reinigende Prinzip der Musik hervorhoben, erlebte der Stoff in Jacques Offenbachs Orpheus in der Unterwelt (1862) eine ganz andere Zuspitzung: dionysisch-satyrisch. Der berühmte Cancan ist ein exzessiver und lasziver Höllengalopp.
    Die extreme Polarität der Musik, ihre »Einheit des Entgegengesetzten«– »Apollon« versus »Dionysos« – bestimmt alles Musikalische bis heute. Und uns begegnet diese »Einheit des Entgegengesetzten« in fast allen Stilen und Genres der Musik – die Mittel allerdings, mit denen beispielsweise Kontraste erzielt werden, sind äußerst unterschiedlich, vergleicht man etwa ein Kinderlied mit Mainstream-Pop und Free Jazz.
    Das gesamte Spektrum der Temperamente und Affekte, von Maß und Maßlosigkeit, von Rationalität und Rausch wirkt derart widersprüchlich, dass die drei monotheistischen Religionen von Anfang an ein zwiespältiges Verhältnis zur Musik hatten und haben. Einerseits kann ihr attestiert werden, höchstes Gotteslob zu sein und die Gläubigen im Glauben zu stärken, ja sogar sie im Rausch Gott näher zu bringen: Denken wir etwa an Augustinus und an Orpheus als Präfiguration Christi, an die tanzenden, singenden jüdischen Chassidim Osteuropas, an islamische Herrschende und die unglaubliche (nicht nur musikalische) Blüte im spanischen Al Andalus des Mittelalters oder an Martin Luther, für den die Musik fast gleichrangig mit der Theologie war und der ihr auch höchsten erzieherischen Rang zuerkannte. Über den krampflocker-frommen Kirchenpop der Gegenwart breiten wir lieber ein gnädiges Schweigemäntelchen.
    Andererseits wird die Musik verdächtigt, mit dem Teufel im Bund zu sein. Diesen Verdacht äußern nicht nur Offizielle im Iran. Und da kommt wiederum Dionysos ins Spiel – das geht verblüffenderweise bis in die Teufels-Ikonografie hinein: Erinnern wir uns an die sprichwörtlichen Bockshörner und Pferdefüße. Immer wieder sind in der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher