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Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Titel: Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist
Autoren: Rick Yancey
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geliefert hatte. Ich vermute, ein gewöhnlicher Erwachsener wäre entsetzt aus dem Raum geflohen, schreiend die Treppe hoch- und aus dem Haus gerannt, denn was in diesem Sackleinenkokon lag, hohnlachte allen Plattitüden und Versprechungen von tausend Kanzeln herab vom Wesen eines gerechten und liebevollen Gottes, von einem ausgewogenen und freundlichen Universum und der Würde des Menschen. Ein Verbrechen , hatte der alte Grabräuber es genannt. In der Tat schien es kein besseres Wort dafür zu geben, wenngleich ein Verbrechen einen Verbrecher erfordert … und wer oder was war in diesem Fall der Verbrecher?
    Auf dem Tisch lag ein junges Mädchen, dessen Körper teilweise verborgen wurde von der nackten Gestalt, die es umschlang, die ein massiges Bein über ihren Rumpf geworfen und einen Arm über ihre Brust gelegt hatte. Das weiße Totenhemd des Mädchens war mit dem charakteristischen Ocker getrockneten Bluts befleckt, dessen Ursprung sofort klar war: Ihr halbes Gesicht fehlte, und darunter konnte ich die freiliegenden Halsknochen erkennen. Die Risse entlang der restlichen Haut waren ausgefranst und von dreieckiger Form, als hätte jemand mit einem Beil auf ihren Körper eingehackt.
    Die andere Leiche war männlich, wenigstens zweimal so groß und, wie schon gesagt, um ihre kleine Gestalt geschlungen wie eine Mutter, die mit ihrem Kind kuschelt, der Brustkorb ein paar Zoll von ihrem verwüsteten Hals entfernt, der Rest des Körpers eng an den ihren gepresst. Aber das Frappierendste war nicht die Größe dieser Leiche und auch nicht einmal die bestürzende Tatsache ihrer bloßen Gegenwart.
    Nein, das Bemerkenswerteste an diesem äußerst bemerkenswerten Bild war, dass der Gefährte der weiblichen Leiche keinen Kopf hatte.
    »Anthropophagus«, murmelte der Doktor mit weit offenen und funkelnden Augen über der Maske. »Es muss so sein … aber wie könnte es? Dies ist äußerst merkwürdig, Will Henry. Dass er tot ist, ist schon merkwürdig genug, aber noch merkwürdiger bei Weitem ist die Tatsache, dass er überhaupt da ist! … Exemplar ist männlich, etwa fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt, keine Anzeichen äußerer Traumata oder Verletzungen … Will Henry, schreibst du auch mit?«

    Er starrte mich an. Ich starrte zurück. Der Gestank des Todes hatte den Raum bereits erfüllt, brannte mir in den Augenund füllte sie mit Tränen. Der Doktor zeigte auf das vergessene Notizbuch in meiner Hand. »Konzentriere dich auf die bevorstehende Aufgabe, Will Henry!«
    Ich nickte und wischte mir mit dem Handrücken die Tränen ab. Ich drückte die Bleistiftspitze aufs Papier und fing unter dem Datum an zu schreiben.
    »Exemplar scheint von der Gattung Anthropophagus zu sein«, wiederholte der Doktor. »Männlich, etwa fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt, keine Anzeichen äußerer Traumata oder Verletzungen …«
    Die Konzentration auf meine Aufgabe als Protokollführer half mir, mich zu beruhigen, dennoch spürte ich das Zerren morbider Neugierde, das mich zwang, wieder hinzuschauen, vergleichbar einem Schwimmer, den das bei Ebbe ablaufende Wasser aufs offene Meer hinauszieht. Ich knabberte am Bleistiftende, während ich mich mit der Schreibung von »Anthropophagus« abmühte.
    »Opfer ist weiblich, zirka siebzehn Jahre alt, mit Spuren von gezackten Traumata an rechter Seite von Gesicht und Hals. Das Zungenbein und der Unterkieferknochen liegen völlig frei und zeigen Einkerbungen von den Zähnen des Exemplars …«
    Zähne? Aber das Ding hatte keinen Kopf! Ich blickte vom Notizbuch auf. Dr. Warthrop stand über die Rümpfe gebeugt und versperrte mir die Sicht. Welche Art von Kreatur konnte beißen, ohne den Mund dafür zu besitzen? Unmittelbar auf diesen Gedanken folgte die schreckliche Erkenntnis: Das Ding hatte sie gefressen !
    Er ging schnell auf die andere Seite des Tischs, wodurch sich mir ein ungehinderter Blick auf das »Exemplar« und sein bedauernswertes Opfer bot. Sie war ein schmächtiges Mädchen mit dunklen Haaren, die sich in einer Kaskade verschwenderischer Locken auf dem Tisch ringelten. Der Doktor beugte sich vor und warf einen kurzen Blick auf die Brust der Bestie, die an sie gepresst war, und besah sich genau den Körper des jungen Mädchens, dessen ewige Ruhe durch diese unheilige Umarmung unterbrochen wurde, diesen Todesgriff eines Eindringlings aus der Welt der Schatten und Nachtmahre.
    »Ja!«, rief er leise. »Ganz bestimmt Anthropophagen. Zange, Will Henry, und eine Schale, bitte –
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