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Der Minnesaenger

Titel: Der Minnesaenger
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weißes Haar, bis es sich glänzend über ihre Schultern legte. Schon als junges Mädchen hatte sie sich so auf die Nachtruhe vorbereitet. Damals hätte sie sich nicht vorstellen können, dass sie eines Tages eine so alte Frau sein würde. Sie hätte niemals für möglich gehalten, dass sie einmal auf ein so erfülltes Leben zurückblicken würde.
    Agnes schlüpfte unter die Decke und schlief bald ein. Als der Mond seinen höchsten Stand erreichte, hatte sie einenTraum. Sie ging über eine Wiese und beugte sich hinab, um eine Blume zu pflücken. Da erklang Hufschlag. Sie richtete sich auf und erkannte am Horizont einen Reiter mit hellblondem Haar, der auf einem schwarzen Schlachtross auf sie zugaloppierte. Agnes spürte beinahe sofort, wie sie sich entspannte. Sie hatte sich schon oft gefragt, wann Dankwart endlich kommen würde, um sie zu holen.
    Neben ihr brachte er den Hengst zum Stehen und reichte ihr den Arm hinunter. »Kein Tag ist vergangen, an dem ich nicht an dich denken musste«, sagte er. »Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben.«

    Ohne einen Moment zu zögern, schwang sich Agnes hinter ihm auf das Schlachtross und schloss die Arme um seine Hüften. Als er das Tier antrieb, schmiegte sie das Gesicht an seinen Rücken und atmete tief ein. Beinahe hätte sie vergessen, wie herb er roch...

Im Jahre des Herrn 1203

1.
    Hartmann war mittlerweile dreiundvierzig Jahre alt. Mit Gregorius, Der arme Heinrich und wein hatte er weitere bedeutende Dichtungen geschaffen, die sich im ganzen Reich verbreitet hatten. Wenn er Burkhard von Schlatt und den Marschall traf, überkam ihn das beruhigende Gefühl, dass er Gefährten hatte, auf die er sich in der Gefahr verlassen konnte. In regelmäßigen Abständen fand er sich auf der Burg seines Dienstherrn ein, um seinen Pflichten nachzukommen, aber dem höfischen Leben konnte er nichts mehr abgewinnen. Lieber verbrachte er seine Zeit im Kreis der Familie.
    Eines Abends saß er am Tisch und beobachtete, wie Judith aus einem Kochkessel Brei schöpfte. Sie füllte zuerst ihm, dann den Kindern und schließlich sich selbst den Napf. Nachdem sie sich gesetzt hatte, falteten alle die Hände und sprachen das Tischgebet.
    Hartmann musste daran denken, dass auch seine Eltern einmal so dagesessen hatten wie sie beide jetzt. Wahrscheinlich hatten sie sich mit den gleichen Dingen beschäftigt wie er und seine Ehefrau heute. In einigen Jahren würde vermutlich sein eigener Sohn hier sitzen und sich an Judith und ihn erinnern. Das Leben würde sich
weiter fortsetzen, auch wenn er längst nicht mehr da wäre, und er fand in diesem Gedanken einen gewissen Trost.
    »Wir müssen noch überlegen«, sagte Judith in dem Moment, »was aus Dankwart werden soll.«
    »Wieso?«, fragte ein Dreikäsehoch von fünf Jahren. Er war der jüngere der beiden Söhne und würde in der Erbfolge leer ausgehen. Mit seiner sehnigen Statur, dem weißblonden Haar und der schnellen Auffassungsgabe kam er ganz nach seinem Vater und Großvater. »Was ist mit mir?«
    »Das Klosterleben ist hart«, sagte Hartmann. »Aber es ist die einzige Möglichkeit, damit er es zu etwas bringen kann. Ulrich, ein früherer Freund von mir, ist mittlerweile der Abt von Sankt Georgen. Er schuldet mir noch einen Gefallen. Ich werde ihm nächste Woche einen Besuch abstatten und um Dankwarts Unterbringung in der externen Schule bitten.«
    »Ja«, sagte Judith, »das solltest du tun. Wenn der Junge nicht zurechtkommt, holen wir ihn einfach wieder nach Hause.«
    Nachdem sie den Tisch abgeräumt und die Kinder zu Bett gebracht hatten, begaben sie sich nach draußen und setzten sich auf die Bank vor dem Bruchsteinhaus. Die Nacht war bis auf das vereinzelte Rufen eines Waldkauzes ruhig. Ein leichter Wind strich über die Kronen der Ahornbäume und zahllose Sterne funkelten am Firmament. Als Judith den Kopf an ihn schmiegte, legte er seinen Arm um ihre Schultern und zog sie fest an sich.
    »Was wird die Zukunft uns wohl bringen?«, fragte sie.
    Hartmann entdeckte eine Sternschnuppe und folgte mit den Augen ihrer Flugbahn. Für einen kurzen Zeitraum
erstrahlte sie heller als alle anderen Himmelskörper, dann erlosch sie und tauchte in der Finsternis unter, als hätte es sie niemals gegeben. »Ich weiß es nicht«, sagte er, »aber was es auch sein wird - wir werden zusammen sein.«

Quellenangaben
    Die Übersetzungen von mittelhochdeutschen Texten wurden ganz oder teilweise übernommen. Die Zitate stammen aus:
    1. »Das Lied vom Falken«, aus:
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