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Der Metzger holt den Teufel

Der Metzger holt den Teufel

Titel: Der Metzger holt den Teufel
Autoren: Thomas Raab
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sehnsuchtsvoll erwarteten Zeitfenster hat man zwecks abermaliger Bronchialentleerung schließlich alle Hände voll zu tun. Der Dirigent wartet geduldig, denkt beruhigt an seine private Krankenversicherung und gibt den Einsatz zu Teil zwei, lautend auf: »Das Opfer«.
    Welch düstere Vorahnung den Herrn Strawinsky da auch immer gequält haben mag, das Wissen um die grausame Ereigniskette, für die seine musikalisch ausformulierte rituelle Tötung einer Jungfrau zum Zwecke der Versöhnung mit dem Frühlingsgott nun fast ein Jahrhundert später den Startschuss liefert, wird es nicht gewesen sein.
    Ganz abgesehen davon: Von Frühling kann im Konzertsaal keine Rede sein, hier herrscht Hochsommer mitten im Herbst. Der Dirigent schwitzt dank der Turnübungen im Frack, die Musiker schwitzen dank des durch die Luft sausenden Taktstocks, die Zuhörer schwitzen dank der fehlenden Klimatisierung. Männer fassen sich an die Krägen, Frauen packen ihre Fächer aus, wedeln mit dem Programmheft oder ihren winzigen Handtäschchen, und schließlich durchmischt sich die reichlich parfümierteLuft mit dem aus der Abendgarderobe hervorströmenden Eigengeruch: Synchron wie am Exerzierplatz heben die Menschen ihre Arme und lüften ihre Achselhöhlen. Der Applaus ist heftig, von der Luft ganz zu schweigen, ein jubelndes Publikum feiert frenetisch sein eigenes Durchhaltevermögen. So schlecht war dem Metzger schon lange nicht mehr.

    Bis zur Pause müht sich Willibald Adrian Metzger noch durch die Notenfolge der zeitgenössischen Partitur, in der Pause dann nicht ohne Folgen durch die Menschenansammlung seiner Zeitgenossen. Genau das hat er befürchtet, hier auch noch einem bekannten Gesicht über den Weg zu laufen.
    »Herr Metzger, Herr Metzger, so eine Überraschung!« Der Tabernakelschrank zwängt sich freudig winkend durch die Menge.
    Dem Metzger fällt ja lange vor dem Namen seiner ehemaligen Auftraggeber das dazugehörige, von ihm auf Vordermann gebrachte Möbelstück ein. Hier muss er jedoch nicht weiter überlegen: »Frau Joachim, heute also ohne Herrn Weinstadler?« Der Spieltisch. Für den Tabernakelschrank und den Spieltisch nämlich wirkte sich der restauratorische Eingriff auch auf deren Besitzer aus. Seit sich Ingeborg Joachim und Otto Weinstadler vor der Metzger-Werkstatt über den Weg gelaufen sind, durchlaufen die beiden auch ihren zweiten Frühling. Als Vermittlungsprovision wurde dem Willibald der Tabernakelschrank inklusive ewiger Dankbarkeit zugedacht.
    »Mein Otto macht sich nichts aus klassischen Konzerten. Ich bin mit Herrn Mühlbach und seinem Neffen Albert hier. Darf ich vorstellen!«
    Ein aparter älterer Herr in Begleitung eines jungen, eleganten Mannes mit ungewöhnlich naturrotem Haar tritt aus dem Hintergrund hervor.
    Stolz streicht Ingeborg Joachim heraus, dass Herr Wernher Mühlbach eigentlich ein Wernher von Mühlbach, in Wahrheit sogar ein Wernher Freiherr von Mühlbach ist. Was dem Herrn Mühlbach furchtbar peinlich zu sein scheint, denn prompt erklärt er, durch diesen Freiherrn mittlerweile so wenig frei zu sein, dass er sich freiwillig den Freiherrn spare. Ein »Freiherr« wolle im Jahr 2010 nämlich wirklich kaum noch jemand hören, geschweige denn würdigen. Mit der damit verknüpften Anrede »Hochwohlgeboren« würde man sich heutzutage, vom Zeitgeist für mögliche vergangene Standesüberheblichkeiten gnadenlos abgestraft, am ehesten eine einfangen.
    Zwischen dem so unverblümt ehrlichen Mühlbach und dem Metzger fliegen auf Anhieb die Funken der Sympathie. Bei der Berufsangabe seines Gegenübers ist das Strahlen in den Augen des Herrn Hochwohlgeboren dann nicht einmal mehr vom Luster über seinem geadelten Haupt zu überbieten: »Ich brauch Ihre Kontaktdaten, Herr Metzger, wir müssen uns unbedingt wiedersehen. Ein verlässlicher Restaurator mit gutem Renommee kommt mir wie gerufen!«
    Also werden Kontaktdaten ausgetauscht, Höf lichkeitsfloskeln gewechselt und schließlich mit den Worten »Auf Wiedersehen!« die Hände geschüttelt.
    Das mit dem Wiedersehen wird gar nicht so lange dauern, und wie gerufen käme dem Metzger jetzt dringend ein Schub sauerstoffreicher Atmosphäre. Wozu hat man Freunde: »Metzger, Mensch, da bist du ja, hab schonbefürchtet, wir verlieren uns! Sag, bist du heiß auf diese zweite Hälfte, oder kann ich dich mit einem Krügerl beim Wirten bestechen?«
    Wie gut das tut, dank der Ehrlichkeit eines Kulturbanausen den eigenen, schwer erarbeiteten intellektuellen Schein
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