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Der Metzger geht fremd

Der Metzger geht fremd

Titel: Der Metzger geht fremd
Autoren: Thomas Raab
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Zeit!«
    »Du hast aber nicht vergessen, was dich überhaupt in dieses noble Kurhotel gebracht hat, oder? Das war ausschließlich der falsche Ort zur falschen Zeit.«
    6
    V IELLEICHT HILFT DER T OD , um zu vergessen. Um vergessen zu werden, hilft er nicht. Selbst ohne greifbaren Nachlass bleibt das unwiderrufliche Vermächtnis der Erinnerungen. Der Rest ist nichts als eine optische Täuschung. Ein Mensch in seiner fleischlichen Form entzieht sich der Sicht und nimmt alles Unausgesprochene mit, auf immer und ewig. Dieses endgültige Schweigen rückt all jene, die schon zu Lebzeiten nahe waren, noch näher heran, und die, deren Gegenwart wie ein Schatten über dem Leben der anderen lag, schieben sich weiter vor die Sonne. Niemand verschwindet, nur weil er gestorben ist. Es gibt keinen Weg, den Erinnerungen zu entkommen, sie heften sich hartnäckig den Lebenden an die Fersen. Sich nicht von ihnen überholen zu lassen, sondern beharrlich einen Schritt vor den anderen zu setzen, darum geht es.
    Genauso hatte er seine Richtung gefunden. Allein. Um für andere gestorben zu sein, ist der Tod nicht nötig. Nichts ist ihm schwerer gefallen als der Kampf der Konsequenz gegen die Trägheit, als der standhafte Blick auf das Gute. Der Mensch entdeckt immer ein Haar in der Suppe, selbst wenn er dazu sein eigenes hineinwerfen muss. Alles war gut.
    Bis zu diesem Tag.
    Eines der in diesem Fotoalbum archivierten Gesichter war plötzlich leibhaftig vor ihm aufgetaucht. Mächtige Arme stemmten einen sehnigen Körper mit einer einzigen fließenden Bewegung auf den Steg. Genauso hatte er ihn in Erinnerung: schwimmend. Zwei Züge unter Wasser, dann einatmen. Das war sein Rhythmus. Während am Ufer ein Leben stattfand, in dem gegen das Ertrinken gekämpft wurde, zog er in unbeirrbaren Zyklen seine Kreise, wie eine Raubkatze, die stumpfsinnig die Gitterstäbe entlangschreitet. Diese Gitterstäbe waren sein freier Entschluss, errichtet, um die anderen auszusperren und ihrem Schicksal zu überlassen. Er war mitten unter den Seinen, Tag für Tag, hat mit ihnen am Tisch gesessen, sie leben und leiden gesehen und war doch nicht vorhanden als Mensch, nur als Maschine. Keiner wäre damals so gebraucht worden wie er. Er, der jede Bezeichnung verdient bis auf diese eine. Bis auf Vater.
    Mit in sich gekehrtem Blick ging dieser Mann, der ihm zum Leben verholfen und unmittelbar danach dem Leben überlassen hat, an ihm vorbei, als genau der Fremde, der er auch war. Lange ist er einfach nur dagestanden, unfähig zu jeder weiteren Bewegung, versteinert, mit pochendem Herzen. Vergangenheitsbewältigung funktioniert nur dann, wenn die Vergangenheit auch gefälligst dort bleibt, wo sie hingehört. Nun hat ihn die Erinnerung überholt.
    Die nächsten Tage verbrachte er versuchsweise so wie sonst. »Es ist nichts geschehen!«, war sein tägliches Nachtgebet. Doch nichts war in Ordnung.
    Er musste es ihr erzählen. Ihr, der all seine Liebe gehört. Nur ein Jahr ist sie jünger als er, und doch sind sie beide ein ganzes Leben voneinander entfernt.
    Zweimal telefonieren sie täglich. Einmal morgens, einmal abends. Das gehört schon zur Gewohnheit, egal, was andere darüber denken. Jeder von beiden lebt sein eigenes Leben, und doch sind sie miteinander verwoben und gleichzeitig gefangen, auf ewig. Alles lässt sich ändern, die krumme Nase, das zu kurze Bein, nur die eigene Herkunft, die nicht. Sie bleibt eingebrannt bis zum letzten Tag.
    Eines Abends jedoch brach es aus ihm heraus. Er erzählte ihr von ihm, und dieses eine Mal, nur dieses eine Mal, war sein zweiter Anruf einer zu viel. Aufrichtigkeit kann ganz schön viel anrichten, den trittsichersten Menschen in die Knie zwingen.
    Sie schwieg.
    »Bist du noch dran?« Er musste sich wiederholen: »Bist du noch dran?«
    »Ja, ich bin dran!«, war ihre Antwort, und während er diesen Satz hörte, wurde ihm klar: Jedes dieser Worte trifft auf ihn selbst zu, mit erschreckender Präzision.
    Er ist an der Reihe.
    7
    B IS ZUM B AHNHOF ist es ja noch gegangen, da gab es den Kofferraum des Taxis, auch im Zug und im Bus bestand die einzig wirklich schwierige Aufgabe darin, dieses Monstrum zu verstauen, aber jetzt, mitten im Niemandsland, spürt er es gewaltig, sein gigantischen Gepäckstück.
    Was hätte er nachts zwischen eins und halb zwei in Anbetracht der unmittelbar bevorstehenden Reise auch anderes tun sollen, der Metzger, als wahllos irgendwelche Kleidungsstücke direkt aus dem Schrank in den Koffer zu befördern,
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