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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel
Autoren: Philip Roth
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von Untersuchungen geworden war, ausgestreut nicht nur vom neuen Dekan, sondern auch von der kleinen schwarzen Studentenorganisation des Colleges und einer gleichfalls schwarzen Aktivistengruppe aus Pittsfield -, ließ die offensichtliche Absurdität dieser Angelegenheit die unzähligen Schwierigkeiten in der Ehe der Silks in den Hintergrund treten, und Iris stellte ihr gebieterisches Wesen, das vier Jahrzehnte lang mit Colemans störrischem Beharren auf Selbstbestimmung im Streit gelegen und für ständige Reibungen gesorgt hatte, in den Dienst der Verteidigung ihres Mannes. Obgleich sie seit Jahren nicht mehr im selben Bett geschlafen hatten und jeder der beiden eine Unterhaltung mit dem anderen - oder mit seinen Freunden und Freundinnen - nur für kurze Zeit hatte ertragen können, standen die Silks wieder Seite an Seite und drohten Leuten, die sie tiefer hassten, als sie in den unerträglichsten Augenblicken einander hassen konnten, mit den Fäusten. Alles, was sie vierzig Jahre zuvor in Greenwich Village als kameradschaftliches Paar verbunden hatte - zu jener Zeit schrieb er an der New York University seine Dissertation, und Iris war ihren verrückten Anarchisteneltern in Passaic eben erst entkommen und stand Studenten der Art Students League Modell, schon damals ausgestattet mit einem dichten, krausen Schopf bedeutender Haare, sinnlich und mit ausgeprägten Gesichtszügen, schon damals eine theatralisch wirkende Hohepriesterin mit folkloristischem Schmuck, eine biblische Hohepriesterin aus der Zeit vor der Synagoge -, alles, was sie in jenen Village-Zeiten verbunden hatte, trat (mit Ausnahme der erotischen Leidenschaft) nun wieder mit Macht hervor ... bis zu jenem Morgen, an dem Iris mit entsetzlichen Kopfschmerzen und einem tauben Arm erwachte. Coleman fuhr sie sofort ins Krankenhaus, doch am nächsten Tag war sie tot.
    »Sie wollten mich umbringen und haben stattdessen sie erwischt.« Das waren Colemans Worte bei jenem unangekündigten Besuch in meinem Haus, und dasselbe bekam jeder zu hören, der zu der Beerdigung am folgenden Nachmittag erschien. Und er glaubte es noch immer. Alle anderen Erklärungen stießen bei ihm auf taube Ohren. Seit ihrem Tod - und seit er erkannt hatte, dass sein Leid kein Thema war, das ich in einem Buch würde verarbeiten wollen, und sich von mir die Dokumente und Unterlagen hatte zurückgeben lassen, die er mir an jenem Tag auf den Schreibtisch geknallt hatte - arbeitete er an einem Buch über die Gründe seines Rückzugs vom Athena College, an einem Tatsachenbericht mit dem Titel Dunkle Gestalten.
    Drüben in Springfield gibt es einen kleinen UKW-Radiosender, der samstags abends von sechs bis Mitternacht das klassische Programmschema aufgibt und in den frühen Abendstunden Big-Band-Musik und später Jazz spielt. Auf meiner Seite des Hügels hört man auf dieser Frequenz nur statisches Rauschen, doch auf Colemans Seite ist der Empfang gut, und wenn er mich samstags zu einem Abenddrink einlud, konnte ich, sobald ich in seiner Einfahrt geparkt hatte und ausgestiegen war, die zuckersüßen Tanzmelodien vernehmen, die unsere Generation in den vierziger Jahren, als wir noch jung waren, ständig aus Radios und Jukeboxen gehört hat. Coleman hatte alle Empfänger voll aufgedreht, nicht nur das Stereoradio im Wohnzimmer, sondern auch den Apparat neben seinem Bett, den Apparat neben der Dusche und den Apparat in der Küche neben der Brottrommel. Ganz gleich, was er an einem Samstagabend in seinem Haus tat - bis Mitternacht, wenn der Sender (nach einer rituellen halben Stunde Benny Goodman) den Betrieb einstellte, war er keine Minute außer Hörweite.
    Seltsamerweise, sagte er, habe ihn die ernste Musik, die er im Lauf seines Erwachsenenlebens gehört habe, niemals so berührt, wie es diese alte Swingmusik nun tat: »Alles Stoische in mir entspannt sich, und der Wunsch, nicht zu sterben, nie zu sterben, wird beinahe unerträglich stark. Und das alles nur«, erklärte er, »weil ich Vaughn Monroe höre.« An manchen Abenden bekam jede einzelne Zeile eines jeden Stücks eine so bizarre Bedeutsamkeit, dass er schließlich ganz allein denselben schiebenden, ziellosen, gleichförmigen, uninspirierten und doch wunderbar wirksamen, Schmusestimmung erzeugenden Foxtrott tanzte, wie damals mit den East-Orange-High-Mädchen, an deren Beine er seine ersten nennenswerten Erektionen gedrückt hatte; und während er tanzte, war, wie er mir erklärte, nichts von dem, was er fühlte, simuliert, weder die
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