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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel
Autoren: Philip Roth
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zusah und zuhörte, hatte ich das Gefühl, Zeuge eines schrecklichen Autounfalls, eines Brandes oder einer gewaltigen Explosion zu sein, Zeuge einer Katastrophe, die den Betrachter bannt, weil sie ebenso unwahrscheinlich wie grotesk ist. Die Art, wie er durch den Raum taumelte, erinnerte mich an ein Huhn, das weiter herumlief, nachdem man es geköpft hatte. Man hatte ihm den Kopf abgeschlagen, den Kopf, der das gebildete Gehirn des einst unantastbaren Dekans und Professors für klassische Literatur enthalten hatte, und was ich hier sah, war der unbeherrscht wütende amputierte Rest.
    Ich, dessen Haus er nie zuvor betreten und dessen Stimme er kaum jemals gehört hatte, sollte alles stehen und liegen lassen und darüber schreiben, wie seine Feinde im Athena College ihn hatten stürzen wollen und statt dessen seine Frau zu Fall gebracht hatten. Indem sie ihr falsches Bild von ihm verbreitet und ihn als etwas bezeichnet hatten, das er nie gewesen war und nie sein würde, hatten sie nicht nur eine Karriere diffamiert, der er sich mit äußerster Ernsthaftigkeit und Hingabe gewidmet hatte, sondern auch die Frau umgebracht, mit der er über vierzig Jahre lang verheiratet gewesen war. Sie hatten sie umgebracht, als hätten sie sorgfältig gezielt und sie ins Herz geschossen. Ich sollte über diese »Absurdität« schreiben, diese »Absurdität« - ich, der ich damals nichts von den Widrigkeiten wusste, mit denen er am College zu kämpfen hatte, und der ich die Chronologie der Schrecken, die vor fünf Monaten über ihn und die verstorbene Iris Silk hereingebrochen waren, nicht einmal ansatzweise begreifen konnte: die fortwährenden quälenden Sitzungen, Anhörungen und Befragungen, die Schriftstücke und Briefe an die Collegeverwaltung, die Fakultätsausschüsse und den schwarzen Anwalt, der die beiden Studenten honorarfrei vertrat ... die Beschuldigungen, das Leugnen, die Gegenbeschuldigungen, die Stumpfheit, die Dummheit, der Zynismus, die krassen und absichtlichen Fehldeutungen, die mühseligen, wieder und wieder eingeforderten Erklärungen, die inquisitorischen Fragen - und immer das beständige, alles durchdringende Gefühl der Unwirklichkeit. »Der Mord!«, rief Coleman, beugte sich über meinen Schreibtisch und hämmerte mit der Faust darauf. »Diese Leute haben Iris ermordet! «
    Das kaum einen halben Meter von meinem entfernte Gesicht, das er mir zeigte, war inzwischen schief und verzerrt und - für das Gesicht eines gepflegten älteren Mannes, der sich sein jugendlich gutes Aussehen bewahrt hatte - seltsam abstoßend, höchstwahrscheinlich gezeichnet vom Gift der Emotionen, die ihn beherrschten. Es war, von Nahem betrachtet, angeschlagen und beschädigt wie ein Stück Obst, das an einem Marktstand zu Boden gefallen und von den Füßen der Passanten hin und her gestoßen worden war.
    Es ist faszinierend, was seelische Schmerzen bei einem Menschen anrichten können, der in keiner Weise schwach oder hinfällig ist. Seelische Schmerzen sind heimtückischer als körperliche, denn sie können nicht durch Morphiuminfusionen, Spinalanästhesie oder eine Operation gelindert werden. Wenn sie einen einmal in ihrem Griff haben, ist es, als könnte einen erst der Tod von ihnen erlösen. Es ist harter, grausamer Realismus, wie man ihn sonst nirgends findet.
    Ermordet. In Colemans Augen konnte nur dies erklären, warum eine tatkräftige, kerngesunde vierundsechzigjährige Frau mit imponierender Ausstrahlung so unvermittelt gestorben war, eine abstrakte Malerin, deren Bilder die regionalen Kunstausstellungen beherrscht hatten und die die örtliche Künstlervereinigung autokratisch geleitet hatte, eine Dichterin, deren Werke in der Zeitung des Landkreises veröffentlicht worden waren, eine einstmals führende politische Aktivistin des Colleges, die schroff, eigenwillig und unnachgiebig gegen Atombunker, Strontium 90 und schließlich den Vietnamkrieg protestiert hatte, eine Naturgewalt von einer Frau, die man auf hundert Meter Entfernung an ihrem großen, zerzausten Schopf drahtigen weißen Haars hatte erkennen können, eine offenbar so starke Persönlichkeit, dass es dem Dekan, der angeblich jeden hatte überrollen können und in der akademischen Welt durch die Rettung des Athena Colleges das Unmögliche vollbracht hatte, trotz aller herausragenden Fähigkeiten nie gelungen war, seiner eigenen Frau außerhalb des Tennisplatzes Paroli zu bieten.
    Sobald Coleman jedoch unter Beschuss lag - sobald der Vorwurf des Rassismus Gegenstand
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