Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel
Autoren: Philip Roth
Vom Netzwerk:
nicht nur der erste schwarze Dozent im Fachbereich Sozialwissenschaften, sondern auch der erste Schwarze, der irgendwas anderes als den Posten eines Hausmeisters bekleidet hat. Aber auch Herb ist durch den Rassismus von Juden wie mir radikalisiert worden. ›Ich kann mich in dieser Sache nicht auf Ihre Seite stellen, Coleman. Ich muss zu ihnen halten.‹ Das waren seine Worte, als ich ihn um seine Unterstützung gebeten habe. Das hat er mir ins Gesicht gesagt. Ich muss zu ihnen halten. Zu ihnen!
    Sie hätten Herb auf Iris' Beerdigung sehen sollen. Völlig fertig. Am Boden zerstört. Es ist jemand gestorben? Dabei wollte Herb doch nicht, dass irgendjemand stirbt. Diese Hinterzimmerstrategen wollten doch bloß mehr Macht. Mehr Einfluss auf die Leitung des Colleges. Sie haben ja bloß eine günstige Gelegenheit genutzt. Es war eine Möglichkeit, Haines und die Verwaltung zu etwas zu drängen, wozu sie sonst nie bereit gewesen wären. Mehr Schwarze auf dem Campus. Mehr schwarze Studenten, mehr schwarze Professoren. Einfluss - darum ging es. Nur darum. Es sollte doch weiß Gott niemand sterben. Oder seine Professur aufgeben. Auch das hat Herb überrascht. Warum hat Coleman Silk seine Professur aufgegeben? Niemand hätte es gewagt, ihn zu feuern. Sie haben getan, was sie getan haben, einfach weil sie es tun konnten. Sie wollten meine Füße nur noch ein bisschen länger über das Feuer halten - warum konnte ich nicht einfach geduldiger sein und warten? Wer hätte sich im nächsten Semester denn schon noch daran erinnert?
    Der Zwischenfall - der Zwischenfall! - verschaffte ihnen das ›strukturierende Thema‹, das sie für ein in Rassenfragen so rückständiges College wie Athena brauchten. Warum habe ich meine Professur aufgegeben? Als ich das tat, war die Sache doch praktisch schon vorbei. Warum zum Teufel habe ich das eigentlich getan?«
    Bei meinem vorigen Besuch hatte Coleman, kaum dass ich eingetreten war, mit etwas vor meinem Gesicht herumgefuchtelt, mit einem der Hunderte von Dokumenten aus den Schachteln mit der Aufschrift »Dunkle Gestalten«. »Hier. Eine meiner begabten Kolleginnen. Schreibt was über eine der beiden Studenten, die mir Rassismus vorgeworfen haben - eine Studentin, die nie in meinem Seminar war, die in allen anderen Kursen bis auf einen durchgefallen ist und auch an diesen kaum je teilgenommen hat. Ich dachte, sie sei durchgefallen, weil sie mit dem Stoff nicht zurechtkam und ihn infolgedessen nicht mal annähernd bewältigen konnte, aber wie sich jetzt herausstellt, ist sie durchgefallen, weil der Rassismus ihrer weißen Professoren sie so eingeschüchtert hat, dass sie nicht den Mut aufbrachte, an den Seminarsitzungen teilzunehmen. Ebenjener Rassismus, den ich artikuliert habe. Bei einer dieser Sitzungen oder Anhörungen, oder was auch immer das war, haben sie mich gefragt: ›Welche Faktoren haben Ihrer Meinung nach dazu geführt, dass diese Studentin nicht bestanden hat?‹ ›Welche Faktoren? ‹ habe ich gesagt. ›Desinteresse. Arroganz. Gleichgültigkeit. Persönlicher Kummer. Was weiß ich?‹ ›Aber‹, haben sie mich gefragt, ›welche positiven Empfehlungen konnten Sie ihr angesichts dieser Faktoren geben?‹ ›Keine. Ich habe sie ja nie gesehen. Aber wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte, hätte ich ihr empfohlen, das College zu verlassen. ›Warum?‹ wollten sie wissen. ›Weil sie auf dem College nichts zu suchen hatte.‹
    Ich will Ihnen etwas vorlesen. Hören Sie sich das an. Es ist von einer Kollegin, die Tracy Cummings als eine Studentin unterstützt, über die wir nicht zu streng oder zu schnell urteilen und die wir tunlichst nicht ablehnen oder ausschließen sollten. Wir müssen Tracy fördern. Wir müssen Tracy verstehen. Wir müssen wissen, sagt uns diese erlauchte Professorin, ›woher Tracy stammt‹. Ich lese Ihnen die letzten Sätze vor. ›Tracy stammt aus recht schwierigen Verhältnissen, da sie in der zehnten Klasse von ihrer unmittelbaren Familie getrennt und von Verwandten aufgenommen wurde. Infolgedessen hat sie kein gut entwickeltes Gespür für die Realität einer Situation.‹ Diesen Mangel bestreite ich nicht. Sie ist jedoch bereit, willens und in der Lage, ihre Einstellung zum Leben zu verändern. Ich bin in den vergangenen Wochen Zeugin ihrer Bewusstwerdung des Umfangs ihrer Vermeidung der Realität gewordene Ergüsse einer gewissen Delphine Roux, Leiterin des Fachbereichs Sprach- und Literaturwissenschaft, die unter anderem einen Kurs für klassische
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher