Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel
Autoren: Philip Roth
Vom Netzwerk:
französische Literatur unterrichtet. Ihrer Bewusstwerdung des Umfangs ihrer Vermeidung der Realität. Ach, genug. Genug. Es ist zum Kotzen. Es ist einfach nur noch zum Kotzen.«
    Das war das Bild, das sich mir meistens bot, wenn ich Coleman an einem Samstagabend Gesellschaft leistete: eine beschämende Demütigung, die noch immer an einem Mann nagte, der voller Lebenskraft war. Der große Mann, der zu Fall gekommen war und diese Schande noch nicht verwunden hatte. Etwas Ähnliches hätte man gesehen, wenn man Nixon in San Clemente besucht hätte oder Jimmy Carter in Georgia, bevor er für seine Niederlage Buße tat, indem er anfing zu schreinern. Etwas sehr Trauriges. Und doch - obgleich ich Sympathien für Coleman hatte, obgleich ich sah, was er durchmachte und was er ungerechterweise verloren hatte, obgleich ich sah, wie nahezu unmöglich es ihm war, sich von seiner Bitterkeit zu lösen, gab es Abende, an denen ich, kaum dass ich ein paarmal an seinem Brandy genippt hatte, so müde wurde, dass es einer Art Zauberei bedurft hätte, um mich wach zu halten.
    Doch an dem Abend, den ich hier schildere und an dem wir uns auf die kühle, mit Fliegengitter umspannte Seitenveranda gesetzt hatten, die Coleman im Sommer als Arbeitszimmer benutzte, war er der Welt so zugewandt, wie man es nur sein kann. Er hatte ein paar Flaschen Bier aus dem Kühlschrank geholt, und nun saßen wir einander gegenüber an dem langen Schragentisch, an dem er hier draußen arbeitete und an dessen einen Ende in drei Stapeln etwa zwanzig oder dreißig Kladden lagen.
    »Tja, da ist es«, sagte Coleman, der jetzt ein ruhiger, entspannter, völlig neuer Mensch war. »Da ist es. Das ist Dunkle Gestalten. Gestern habe ich die erste Fassung fertiggestellt, und heute habe ich den ganzen Tag damit verbracht, darin zu lesen, und fand jede Seite zum Kotzen.
    Schon die Heftigkeit der Handschrift hätte gereicht, um mich gegen den Verfasser einzunehmen. Dass ich auch nur eine Viertelstunde damit verbracht habe, geschweige denn zwei Jahre ... Iris ist durch deren Schuld gestorben? Wer soll das glauben? Ich kann es selbst kaum noch glauben. Um aus diesem Geschmiere ein Buch zu machen, um das wild gewordene Elend daraus zu tilgen und das Ganze in das Werk eines geistig gesunden Menschen zu verwandeln, müsste man mindestens noch einmal zwei Jahre investieren. Und was würde mir das bringen, abgesehen davon, dass ich mich noch einmal zwei Jahre mit ›denen‹ befassen müsste? Nicht dass ich plötzlich versöhnlich geworden wäre. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich hasse diese Schweinehunde. Ich hasse sie, wie Gulliver die gesamte menschliche Rasse hasste, als er bei den Pferdewesen lebte. Ich hasse sie mit einer geradezu biologischen Abneigung. Diese Pferde fand ich allerdings immer lächerlich. Sie nicht? Die kamen mir immer vor wie die weißen, angelsächsischen, protestantischen Honoratioren, die das College geleitet haben, als ich hierherkam.«
    »Sie sind in guter Verfassung, Coleman - kaum noch etwas von dem alten Wahnsinn. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, vor drei Wochen oder einem Monat, sind Sie noch in Ihrem eigenen Blut gewatet.«
    »Wegen diesem Ding da. Aber jetzt habe ich es gelesen, und es ist Mist, und ich bin damit fertig. Ich bin kein Profi, ich kriege das nicht hin. Wenn ich über mich selbst schreibe, bekomme ich keinen kreativen Abstand. Es ist Seite für Seite noch immer die unbearbeitete Rohfassung. Es ist eine Parodie auf Erinnerungen zum Zweck der Rechtfertigung. Die Sinnlosigkeit von Erklärungen.« Lächelnd fuhr er fort: »Kissinger produziert alle paar Jahre vierzehnhundert Seiten von dem Zeug, aber ich kriege das nicht hin. Kann sein, dass ich blind und abgekapselt in meiner narzisstischen Blase sitze, aber im Vergleich zu ihm bin ich ein Nichts. Ich gebe auf.«
    Die meisten Schriftsteller, die nicht mehr vom Fleck kommen, nachdem sie die Arbeit von zwei Jahren - oder von einem Jahr oder auch nur von sechs Monaten - gelesen haben und sie so hoffnungslos misslungen finden, dass sie sie der Guillotine der eigenen Kritik überantworten mussten, tauchen in einen Zustand selbstmörderischer Verzweiflung ein, der monatelang andauern kann.
    Doch Coleman hatte die Rohfassung seines Buches, diese so überaus schlechte Rohfassung, einfach aufgegeben, und schwimmend war es ihm irgendwie gelungen, sich nicht nur vom Wrack seines Buches, sondern auch vom Wrack seines Lebens zu lösen. Ohne das Buch schien er jetzt nicht mehr das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher