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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel
Autoren: Philip Roth
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entsprechen, musste feststellen, dass sein Lebenslauf dennoch vor Coleman auf dem Schreibtisch lag. Mit jedem dieser Professoren hatte der neue Dekan eine Unterredung, die eine volle Stunde und manchmal auch länger dauerte, bis sie, nachdem er überzeugend ausgeführt hatte, dass sich in Athena nun doch einiges ändern würde, regelrecht ins Schwitzen kamen. Er hatte auch keine Hemmungen, das Gespräch zu eröffnen, indem er in dem Lebenslauf blätterte und sagte: »Was haben Sie in den letzten elf Jahren eigentlich gemacht? « Beinahe alle Fakultätsmitglieder antworteten, sie hätten regelmäßig in den Athena Notes publiziert, und verwiesen auf ephemere philologische, bibliografische oder archäologische Erkenntnisse, die sie alljährlich aus ihren uralten Dissertationen destilliert und in der hektografierten, in grauen Karton gebundenen Vierteljahresschrift »publiziert« hatten, welche, abgesehen von der Collegebibliothek, nirgendwo auf der Welt katalogisiert wurde, und nachdem er diesen Satz einmal zu oft gehört hatte, brach er der Legende nach mit den in Athena geltenden Regeln der Höflichkeit und sagte: »Mit anderen Worten, Sie haben Ihren eigenen Mist wiedergekäut.« Er stellte nicht nur das Erscheinen der Athena Notes ein, indem er den winzigen Druckkostenzuschuss an den Stifter – den Schwiegervater des Herausgebers - zurückerstattete, sondern zwang auch, um den Wunsch nach vorzeitiger Pensionierung tunlichst zu fördern, die ältesten der alten Garde, die Vorlesungen, die sie seit zwanzig oder dreißig Jahren unverändert und auswendig hielten, aufzugeben und Einführungsseminare für Englisch und Geschichte sowie die neuen Orientierungskurse für Studienanfänger zu übernehmen, die in den heißen letzten Tagen des Sommersemesters stattfanden. Er schaffte den völlig falsch betitelten Preis für den »Wissenschaftler des Jahres« ab und fand für die damit verbundenen tausend Dollar eine anderweitige Verwendung. Zum ersten Mal in der Geschichte des Colleges mussten die Professoren für ein bezahltes Sabbatjahr - das übrigens gewöhnlich nicht genehmigt wurde - einen formellen Antrag mit einer detaillierten Projektbeschreibung einreichen. Coleman führte den klubartig gestalteten Speisesaal der Fakultätsmitglieder, der über die schönsten eichenen Wandtäfelungen des ganzen Campus verfügte, wieder seiner ursprünglichen Bestimmung als Raum für Doktorandenseminare zu, sodass die Dozenten ihre Mahlzeiten zusammen mit den Studenten in der Cafeteria einnehmen mussten. Er bestand darauf, dass Fakultätssitzungen abgehalten wurden - sein Vorgänger hatte sich durch den Verzicht auf diese Veranstaltungen sehr beliebt gemacht -, und sorgte dafür, dass die Sekretärin eine Anwesenheitsliste führte, wodurch selbst hochmögende Professoren, die lediglich drei Wochenstunden unterrichteten, gezwungen waren zu erscheinen. Nachdem er in der Charta des Colleges eine Klausel entdeckt hatte, die Exekutivausschüsse verbot, löste er diese mit dem Argument auf, sie seien durchgreifenden Veränderungen hinderlich und gründeten sich lediglich auf Konvention und Tradition, und er leitete die Fakultätssitzungen durch Erlasse, wobei er bei jeder Zusammenkunft verkündete, was er als Nächstes zu tun gedachte - lauter Dinge, die den Unmut unter den Dozenten nur vergrößerten. In seiner Amtszeit wurde es erheblich schwieriger, befördert zu werden, und das war vielleicht der größte Schock: Die Dozenten rückten nicht mehr automatisch und aufgrund ihrer Beliebtheit auf und bekamen keine Gehaltserhöhungen, die nicht durch akademische Leistungen gerechtfertigt waren. Kurz gesagt, er führte den freien Wettbewerb ein und sorgte für Konkurrenz, und das, bemerkte einer derjenigen, die früh zu seinen Feinden wurden, »tun Juden ja immer«. Und jedes Mal, wenn man zornentbrannt ein Ad-hoc-Komitee bildete, um sich bei Pierce Roberts zu beklagen, stärkte dieser Coleman den Rücken.
    Die intelligenten, begabten jungen Leute, die in den Robertsjahren eine Stelle am College bekamen, liebten Coleman, weil er ihnen Platz verschafft hatte und gute Absolventen der Graduiertenstudiengänge in Yale, Cornell und an der Johns Hopkins University anwarb. Es war, wie sie es nannten, »die Revolution der Qualität«. Sie priesen ihn dafür, dass er die herrschende Elite aus ihrem kleinen Club vertrieben und ihre Selbstdarstellung in Zweifel gezogen hatte - das sicherste Mittel, um einen aufgeblasenen Professor an den Rand des
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