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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister
Autoren: Tess Gerritsen
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ist.«
    Rizzoli trat auf den Mann zu, dessen Gesicht mit einer glänzenden Schweißschicht überzogen war. Es war halb zwölf; die Sonne stand schon fast im Zenit und brannte wie ein zornig starrendes Auge auf sie herab.
    »Was genau haben Sie gehört, Sir?«, fragte sie.
    Er schnaubte verächtlich. »Dasselbe, was alle anderen auch gehört haben.«
    »Einen lauten Knall.«
    »Ja. Gegen halb acht. Ich kam gerade aus der Dusche. Ich hab aus dem Fenster geschaut, und da lag er, mitten auf dem Gehsteig. Sie sehen ja selbst, was für eine gefährliche Stelle das hier ist. Diese Schweine kommen mit einem Affentempo um die Kurve gerast. Muss ein Lkw gewesen sein, der ihn erwischt hat.«
    »Haben Sie einen Lkw gesehen?«
    »Nee.«
    »Oder gehört?«
    »Nee.«
    »Und einen Pkw haben Sie auch nicht gesehen?«
    »Lkw, Pkw.« Er zuckte mit den Achseln. »So oder so, es war ein Unfall mit Fahrerflucht.«
    Es war dieselbe Geschichte, die sie schon dutzendfach von den Nachbarn des Mannes zu hören bekommen hatten. Irgendwann zwischen sieben Uhr fünfzehn und sieben Uhr dreißig war auf der Straße ein lauter Knall zu hören gewesen. Es gab keine Augenzeugen für das, was passiert war. Sie alle hatten lediglich das Geräusch gehört, und dann hatten sie die Leiche des Mannes entdeckt. Rizzoli hatte die Möglichkeit, dass der Mann sich in den Tod gestürzt hatte, bereits in Betracht gezogen, aber gleich wieder verworfen. Der Straßenzug bestand nur aus zweistöckigen Gebäuden; kein Punkt lag hoch genug für einen Sturz mit derart verheerenden Folgen. Und es waren auch keine Spuren einer Explosion zu entdecken, die einen menschlichen Körper dermaßen zerfetzt haben könnte.
    »He, kann ich jetzt vielleicht mein Auto hier wegfahren?«, fragte der Mann. »Es ist der grüne Ford da hinten.«
    »Der mit den Hirnspritzern auf der Motorhaube?«
    »Ja.«
    »Was glauben Sie denn?«, fuhr sie ihn an. Dann ließ sie ihn einfach stehen und ging hinüber zu dem Gerichtsmediziner, der in der Mitte der Straße kauerte und den Asphalt absuchte. »Das sind doch alles Arschlöcher hier in der Straße«, sagte Rizzoli. »Das Opfer ist ihnen völlig schnuppe. Und es weiß auch niemand, wer er ist.«
    Dr. Ashford Tierney blickte nicht zu ihr auf; er starrte weiter unbeirrt auf die Straße. Unter den spärlichen grauen Haarsträhnen glitzerte sein Schädel von Schweiß. Noch nie war ihr Dr. Tierney so alt und müde vorgekommen. Als er sich jetzt aufzurichten versuchte, streckte er die Hand nach ihr aus; eine stumme Bitte um Hilfe. Rizzoli ergriff sie, und sie konnte das Knirschen und Knacken der ermüdeten Knochen und Gelenke spüren, das sich durch seine Finger auf ihre übertrug. Er stammte aus Georgia; ein Südstaaten-Gentleman der alten Schule, der mit der direkten Art der Bostoner, wie Rizzoli sie verkörperte, nie recht warm geworden war, ebenso wenig wie sie mit seiner Förmlichkeit. Das Einzige, was sie verband, waren die sterblichen Überreste der Menschen, die auf Dr. Tierneys Autopsietisch landeten. Aber als sie ihm nun aufhalf, registrierte sie seine Gebrechlichkeit mit einem Anflug von Traurigkeit, und sie musste an ihren eigenen Großvater denken, dessen Lieblingsenkelin sie gewesen war – vielleicht, weil er in ihrem unbeugsamen Stolz und ihrer hartnäckigen Zielstrebigkeit sich selbst wieder erkannte. Sie erinnerte sich daran, wie sie ihm aus dem Sessel aufgeholfen hatte, an seine vom Schlaganfall gelähmte Hand, die wie eine Klaue auf ihrem Arm geruht hatte. Selbst ein vor Energie strotzender Mann wie Aldo Rizzoli war von den unerbittlichen Mühlen der Zeit schließlich in ein Häuflein brüchiger Knochen und knackender Gelenke verwandelt worden. Sie konnte den gleichen Effekt an Dr. Tierney beobachten, als er nun schwankend in der Mittagshitze stand und sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte.
    »Das ist ja ein Prachtexemplar von einem Fall; genau das Richtige zum Abschluss meiner Karriere«, sagte er. »Übrigens, Detective, werden Sie auch zu meiner Abschiedsparty kommen?«
    »Äh … zu welcher Party?«, fragte Rizzoli.
    »Zu der, mit der Sie alle mich überraschen wollen.«
    Sie seufzte. Und gab zu: »Ja, ich bin dabei.«
    »Ha. Von Ihnen habe ich noch immer eine offene Antwort bekommen. Ist es nächste Woche?«
    »In zwei Wochen. Und Sie wissen es nicht von mir, okay?«
    »Ich bin froh, dass Sie es mir gesagt haben.« Er blickte auf den Asphalt hinab. »Ich mag Überraschungen nicht besonders.«
    »Also,
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