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Der Meister und Margarita

Titel: Der Meister und Margarita
Autoren: Michail Bulgakow
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entgegenstanden, bewältigte Bulgakow durch die Wahl der drei Handlungsebenen des Romans: Die Gegenwartshandlung beschränkt sich im Ausgangspunkt auf die Zerschlagung der RAPP und des Awerbach-Kults. Hier konnte er an einem geschichtlich bereits abgeschlossenen, extremen Fall im gesellschaftlichen Mikrokosmos künstlerisch untersuchen, welche Grundsubstanz und Perspektive die russische Revolution besitzt. Das war möglich, weil die Extremisten der RAPP etwas wie neue Jakobiner und kleine Napoleons im sozialistischen Gewand waren. Der endgültige Sieg solcher Menschen wie Berlioz hätte also bedeutet, daß die Revolution im Gegensatz zu Lenins Idee die von Dostojewski befürchtete Neuauflage der französischen Revolutionen geworden wäre. Bereits 1924 hatte Lunatscharski gewarnt: "Wenn wir alle auf dem Standpunkt des Genossen Awerbach ständen, würden wir ein Häuflein Eroberer in einem fremden Land werden." Diese Bedeutung maß Lunatscharski dem Kampf gegen Awer-bach bei, als dieser die Liquidation der Literaturpolitik Woron-skis, des von Lenin eingesetzten Herausgebers der ersten sowjetischen Literaturzeitschrift "Krasnaja Now", forderte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß das von Woronski unterstützte literarische Programm die Losung enthielt: "Der Schriftsteller soll die hohe künstlerische Kultur meistern, die vor ihm erreicht worden ist, das heißt, er soll kein ,Iwan sein, der sich nicht an die eigene Verwandtschaft erinnert'." Und als die RAPP die Abberufung Woronskis erreicht hatte, schrieb Gorki in einem Brief an Gladkow vom 21. März 1927: "Ich liebe Woronski sehr und schätze ihn sehr hoch ein . .. Diese Intriganten und Beamten neuer Formation versuchen, die völlige Vernichtung Woronskis zu erreichen... Sie kämpfen um die oberste Führung der ganzen Sowjetliteratur, um der einzige Hegemon zu werden . .."
    Die Wahl der Geschichte von Jeschua und Pilatus als zweite Handlungsebene ermöglichte Bulgakow weiter, die Problematik der zeitgenössischen "kleinen Welt" — den Kampf zwischen Berlioz und dem Meister um Iwan Hauslos — in einer weltgeschichtlichen Handlungsparallele zu vertiefen und zu verallgemeinern. Darin folgte Bulgakow dem Faustmodell Dostojewskis, der in den "Brüdern Karamasow" die "kleine Welt" einer Übergangsepoche, für die die Wirklichkeit ebenfalls noch nicht den ,Abschluß" geboten hatte, zur "großen Welt" erweiterte, indem er die Geschichte der Brüder Karamasow als zeitgenössischen individuell-menschlichen Prüfstein für die neue Lösung des umfassenderen Pro und Kontra zwischen Jesus und dem legendären Großinquisitor gestaltete. Die Geschichte von Jeschua und Pilatus ist aber bei Bulgakow keine eingeschobene symbolträchtige Legende, sondern direkt die geschichtlich übergreifende "Formel des Sujets" und der ganzen Romankomposition. Bulgakow hat die biblische Geschichte völlig entmythologisiert. Jeschua vertritt die naive urkommunistische Idee, daß der Mensch gut sei und nur durch die Umstände zum Bösen verführt werde. Folglich könne durch die Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse das Paradies auf Erden erreicht werden. Jeschuas Streit mit Pilatus tritt daher kompositionell nicht nur an die Stelle der Wette zwischen Gott und Teufel in Goethes "Prolog im Himmel", sondern ist zugleich die neue "Wette" der faustischen Menschheit mit dem Bösen aller Zeiten um die Möglichkeiten des Menschen und des Menschengeschlechts im Guten und Bösen. Zur Debatte steht also auf neue Weise wie bei Goethe die These menschlicher Freiheit und Selbstverantwortung des Menschengeschlechts. Und die "Wette" wird in der "großen Welt" des Bulgakowschen Romans durch die Katharsis des Pilatus, durch dessen Weg zu Jeschua nach der Erfahrung von zweitausend Jahren Menschheitsgeschichte, zugunsten des Menschen entschieden. Damit nähert sich das Menschen- und Geschichtsbild von "Meister und Margarita" dem des wissenschaftlichen Kommunismus. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, daß dies sogar von bürgerlichem und christlich-dog-matischem Standpunkt bestätigt wurde. So betonte S. Landmann im "St. Galler Tageblatt" vom 28. April 1968, daß Bulgakows "Christusinterpretation sich mit der atheistischen Welt konzeption des Kommunismus ganz gut vertrug". Bulgakow entwickelte also die biblische Legende — wie es Ait-matow in bezug auf seine analoge schöpferische Rezeption der alten kirgisischen Legende vom Streit zwischen der Gehörnten weißen Hirschmutter und der
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