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Der Meister und Margarita

Titel: Der Meister und Margarita
Autoren: Michail Bulgakow
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dort zerstören und strafen, wo der notwendige menschheitsgeschichtliche Fortschritt gehemmt wird. Voland entpuppt sich also vor allem als Vollstrecker des "Gesetzes der Gerechtigkeit", das Wladimir Lakschin in seinem Essay über "Meister und Margarita" (1968) als die geschichtsphilosophi-sche Grundidee des Romans definiert hat: "In der Perspektive der Zeit wird die Gerechtigkeit unabwendbar wiederhergestellt. Darin spiegelt sich im Grunde die optimistische Idee des Fortschritts der menschlichen Gesellschaft wider, die von verschiedenen Denkern, Philosophen und Schriftstellern auf verschiedene Weise bezeichnet worden ist: Vergeltung, Gericht der Geschichte, Ironie der Geschichte."
    In dieser neuen Eigenschaft kann die Teufelsgestalt auch die künstlerische Funktion einer i Klammer zwischen den drei Handlungsebenen des Romans organisch ausüben. Die realisti-sehe Geschichte im nachrevolutionären Moskau, die phantastische Welt der Teufel und Hexen und der Jeschua-Pilatus-Ro-man werden auf diese Weise nach einer einheitlichen Idee entwickelt und kompositorisch vereinigt. Der ursprüngliche "Roman über den Teufel" entfaltet sich so zu einem Roman über Genesis, Dialektik und Perspektive der Menschheitsgeschichte, über die fortschreitende Menschheit, die "immer strebend sich bemüht", zu einem neuen zeitgenössischen Faustmodell. Dieses ist jedoch, nach Goethes Maßstäben gerechnet, sehr ungewöhnlich, vor allem deshalb, weil es im Vordergrundgeschehen keine durchgängige Faustgestalt gibt, die wie Goethes Faust die ganze Menschheit repräsentiert. Goethes Faust hat am Ende seines Lebens erfahren, was er beim Teufelspakt forderte: "... Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, /Will ich in meinem innern Selbst genießen,/Mit meinem Geist das Höchst' und Tiefste greifen/ Ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen/^ Und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern." Iwan Ponyrew geht zwar am Beginn des Romans die neue Faustwette der Menschheit mit dem Teufel ein, als er auf die Frage Volands: "Wenn es keinen Gott gibt, wer lenkt dann eigentlich das menschliche Leben und überhaupt den ganzen Ablauf auf der Erde?" antwortete: "Der Mensch selber." Doch diese Antwort war nur eine fertig übernommene "Schlußfolgerung der kommunistischen Wissenschaft". Sie gründete sich noch nicht auf eine Aneignung ,Jener Summe von Kenntnissen", "deren Ergebnis der Kommunismus ist". Deshalb wird Iwan auch als neuer Faust zunächst zu einer komischen Figur, da er nach der Vision des "Evangeliums von Voland" und dem "Siebten Beweis" des Teufels vom "Wort" zur "Tat" schreitet, indem er auf altväterische Weise den Teufel mit Kerze und Ikone zu fangen versucht. Iwan greift also nach dem Zusammenbruch seiner oberflächlichen, idealistischen und voluntaristischen Proletkultbildung sofort auf das christlich-mystische Weltbild des alten patriarchalischen Rußlands zurück, das er innerlich noch nicht bewältigt hatte. Erst am Schluß des Romans macht er die ersten Schritte auf dem Wege, sich anzueignen, "was der ganzen Menschheit zugeteilt ist". Dennoch ist , Der Meister und Margarita" auf neue Weise ein echtes neues Faustmodell.
    Boris Pasternak hat anläßlich seiner Übertragung von Goethes "Faust" ins Russische geschrieben: "Die Wunder der Verwandlung, die Faust, der Gelehrte, in dieser Tragödie vollbringt, indem er durch Imagination in längst verloschene Vergangenheit dringt oder die Zukunft anfliegt, sind die täglichen Wunder der Voraussicht.und die Wunder schöpferischer Kraft, die zu Kunst werden. Solche Verwandlungen vollzieht auch ein Historiker, der Jahrzehnte seines Lebens dafür einsetzt, die aus dem Gedächtnis verschwundenen Jahrtausende wiederherzustellen, oder ein Reformer, dessen Weitblick in die Fernen der Zukunft dringt. Solche Verwandlungen leisten die Werke der großen Künstler, so die Tragödie ,Faust'; flüchtige Beobachtungen und Ereignisse aus Goethes Leben sind in ihr zu Gestalten von dauernder, ewiger Bedeutung verwandelt. Das sind jene Wunder der Verwandlung, die von der Physik in den Begriffen der Verwahrung und der Verwandlung der Materie beziehungsweise der Energie vereinigt werden. Hier vollziehen sich gleichartige Verwandlungen. Das schöpferische Wesen der Zeit wechselt von der nach Jahren gemessenen biographischen Form in eine gesellschaftlich-historische Kulturform über, die nach Jahrhunderten gemessen wird."
    Solch ein "Wunder der Verwandlung", des Eindringens in "längst verloschene Vergangenheit"
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