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Der Maskensammler - Roman

Der Maskensammler - Roman

Titel: Der Maskensammler - Roman
Autoren: C.H.Beck
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Kontoauszüge in ungeöffneten Umschlägen.
    Als sie die erste der beiden Schubladen öffnete, wusste Ursula, dass eine Überraschung auf sie wartete. Zuunterst fand sie ein Telegramm: «Bernhard, lieber Sohn, bin schwer erkrankt. Ärzte mit ihrem Latein am Ende. In dieser Situation bitte ich Dich herzlich: Komm zurück! Komm so bald wie möglich! Bin ohne Groll, werde Dir keine Vorwürfe machen. Dein Vater.» – Auf dem Eingangsstempel konnte Ursula «Jakarta» und das Datum des siebzehnten April 1940 entziffern.
    Daneben lag in einem abgegriffenen Umschlag ein Brief: «Lieber Bernhard, auf den Tag genau vor zehn Jahren bist Du aus meinem Leben, nicht aber aus meinen Gedanken verschwunden. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ein Bild vor mir: Es ist der Tag Deiner Abreise aus Java. Du stehst zwischen Deinen Koffern wie jemand von einem anderen Stern auf dem Kai und wirst gleich an Deck gehen. Du siehst so traurig aus, dass es mir ins Herz schneidet. Ich sage Dir, dass ich schwanger bin, und würde Dich am liebsten küssen. Aber Du bist so unnahbar, Dich auch nur zu umarmen, traue ich mich nicht.
    Laura kommt dieses Jahr aufs Lyzeum. Ich lebe mit ihr und einem sehr viel älteren Mann in einem Vorort von Delft. Sie denkt, er sei ihr Vater.
    Du warst für mich ein Rätsel. Was ich als ‹Mischling› am meisten gebraucht hätte, hast Du mir nicht gegeben: Geborgenheit. Aber soweit Du es zugelassen hast, habe ich Dich geliebt. Deine Antje.»
    So erfuhr Ursula, dass sie eine zweite Schwester hatte. Sorgfältig, als wäre er ein kostbares Beweisstück, faltete sie den Brief zusammen und nahm ihn an sich. «… soweit Du es zugelassen hast, habe ich Dich geliebt.» – Das galt auch für sie. Ihr war es nicht anders gegangen, ihr Vater war ihr ein Rätsel geblieben. Die Fremde, deren Namen sie nie gehört hatte, sprach aus, was sie immer empfunden hatte. Auch sie hatte sich nach Geborgenheit gesehnt, wederihre Mutter noch ihr Vater hatten sie ihr geben können. Sie nahm sich vor, dieser Antje mitzuteilen, dass Bernhard sich in geistiger Umnachtung das Leben genommen hatte. Nein, das würde sie nicht tun. Sie würde ihr schreiben, dass es ein Unfall war, und ihr sagen, auf welchem Friedhof er begraben lag.
    Ursula suchte weiter. In einem Fach fand sie, nur notdürftig verschlossen, das Testament ihres Vaters. Er hatte es mit unterschiedlichen Farbstiften geschrieben. Für alles, was sie betraf, hatte er ein helles Blau gewählt, allgemeine Anweisungen waren in Grün gehalten. Drei Sätze waren in Rot hervorgehoben: «Es ist mein letzter Wille, dass meine Masken mit mir beerdigt werden. Und zwar sollen im Sarg je zwei zu meinen Füßen, auf meinen Knien, meinen Händen, meinen Schultern sowie rechts und links von meinem Kopf liegen. Candra Kirana aber, meine Prinzessin, soll die Öffnungen des Unterleibs bewachen.» Unterschrieben war das Testament mit schwarzer Tusche. Ihr erster Gedanke war: «Zu spät!» Dann aber sagte sie laut, sodass die Masken es hören konnten: «Ja!» Sie würde das Grab noch einmal öffnen lassen.
    In einem Kästchen, das mit einem Klebestreifen verschlossen war, waren die Schlüssel der Waffenkammer versteckt. Ursula öffnete sie vorsichtig. Sie war leer.
    ***
    Während sich unter ihren Kommilitonen Nervosität und Prüfungsangst breitmachte, bereitete sich Ursula geradezu mit Lust auf das Staatsexamen vor. Je näher der Termin für die Klausuren rückte, desto klarer wurden ihr die Zusammenhänge, und desto leichter fiel es ihr, sich den Stoff einzuprägen. Getrieben von dem Ehrgeiz, als Beste abzuschneiden, vergaß sie zu essen und war nach kurzem Schlaf wieder bei ihren Büchern. Sie trank kannenweise Kaffee, Zigaretten waren für sie keine Versuchung. Wenn ihre Augen brannten,wusch sie sich das Gesicht mit kaltem Wasser oder stand für einen Moment blind vor dem geöffneten Fenster.
    Es blieb ihr keine Zeit, um ihren Vater zu trauern. In ihrer Erinnerung tauchte manchmal gestochen scharf das Bild auf, das ihn zeigte, wie sie ihn das letzte Mal gesehen hatte: Die zerschmetterten Glieder mit einem Leintuch bedeckt, das Gesicht fahl, aber unverletzt, lag er in einem Sarg aus einfachem Holz. Es war keine Beimischung von Bitterkeit in ihren Gedanken an ihn. Mit dem Diplom in der Tasche würde sie an seinem Grab stehen und ihm berichten, dass sie mit Auszeichnung bestanden hatte. «Vater, lieber Papa», würde sie zu ihm sagen.
    Am letzten Wochenende vor der Prüfung entschloss sie sich, nach
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