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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Autoren: Moritz Rinke
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wenn dann Paul zu Hause hörte, wie seine Eltern zwischen drei und vier Uhr diskutierten, ob man vielleicht mittagessen könnte und vor allem, wer das Mittagessen machen sollte, stand er vom ungedeckten Tisch auf, tippte mit seinem Kinderfinger anklagend auf die Küchenuhr und erklärte: »Ist ja gar nicht mehr Mittag!«
    Seine Eltern waren Künstler in der Künstlerkolonie. Der Vater hatte große Ziele, er wollte mit seinem Bleistift und seinen Zeichnungen den Kapitalismus stoppen; Pauls Mutter hielt es sich noch offen, mit welcher Kunstform sie ihre fernöstlichen Ideale aus Indien zum Ausdruck bringen würde. Auf jeden Fall verstanden beide nicht, dass das Mittagessen den Tag in zwei gleich große Hälften gliederte, in einen Vormittag und einen Nachmittag, und dass man so etwas brauchte, das hatte mit Indien und Kapitalismus nichts zu tun. Die anderen Kinder, die bereits Stunden zuvor auf den Wiesen »Mahltiet« gerufen hatten, waren unterdessen schon in der zweiten Hälfte kurz vor dem Abendbrot, und Paul lief ihnen mit dem Tag immer hinterher, er war immer der Letzte. Es war, als lebten die Bauern und die Künstler im Moor in unterschiedlichen Zeitzonen.
    Das Einzige, was Paul pünktlich einnahm, war Kaffee und Kuchen. Um Punkt vier stellte Pauls Großmutter ihren Butterkuchen auf den Gartentisch und beendete die Diskussionen um Abläufe und Ordnungen, dann strömte es aus allen Ecken des Hauses auf das ofenfrische Blech zu, und man saß beisammen im Garten, den der Großvater entworfen und sein Leben lang gepflegt hatte, mit Rhododendron, Fliederbeeren, der alten Eiche und seinen Bronzemenschen der Geschichte.
    Immer pünktlich und die Erste am Tisch, wenn der Butterkuchen kam: Johanna Kück, Pauls Mutter - die Beine im Schneidersitz, blätterte sie in ihren Schriften über den Schöpfergott Brahma herum und schaute sich Krishna mit seinen heiligen Kühen an. Als ob zu Hause nicht schon genug Kühe herumgestanden hätten, aber mit normalen norddeutschen Milchkühen gab sie sich nicht ab. Sie beschäftigte sich nur mit indischen Kühen, deren Augen enger beieinander standen und nicht so stark vorgewölbt waren und daher für Pauls Mutter auf ein tieferes Wissen hindeuteten. Sie hielt die glubschäugigen Kühe von Bauer Renken oder Gerken für dämlich, weil sie stundenlang von den angrenzenden Weidewiesen in den Kückgarten herüberglotzen, ohne dass seine Mutter aus ihren Blicken irgendetwas Tieferes oder Heiliges herauslesen konnte.
    »Na, ihr dummen Nordkühe«, rief sie meist hinüber, wenn sie am Tisch eintraf, und Paul hatte das Gefühl, er müsste sich bei den Kühen sofort dafür entschuldigen, sie konnten ja vom Indientick seiner Mutter nichts wissen. Er saß dann da und sah mitleidig Renkens Kühe an, während Johanna Briefe an Ringo Starr von den Beatles schrieb oder an die Gründer von irgendwelchen Heilungsbiotopen. Dabei aß sie ein Stück Butterkuchen nach dem anderen.
    »Kommt die Milch für unseren Butterkuchen aus Indien oder aus Worpswede?«, fragte Paul, als sie wieder einmal »Na, ihr dummen Nordkühe« gesagt hatte. Er wollte ihr damit deutlich machen, dass es ungerecht war, sich an den Tisch zu setzen, selbst Butterkuchen zu essen und dabei die herüberguckenden Nordkühe zu beschimpfen.
    Wenn es Sommer war, befand sich der Vater sowieso schon am Gartentisch und zeichnete und zeichnete. Schöpfertage, wie er sie nannte, hatten eine andere Einteilung als Menschentage und beim Vater gab es nur Schöpfertage. Sie waren wie eine heilige Glocke, unter der Ulrich Wendland die Jahre verbrachte, und manchmal klopften die Menschentage an die Glocke, doch es kam keine Antwort. Er bemerkte seinen Sohn gar nicht, wenn der sich auch an den Tisch setzte, um bei seinem Vater zu sein. Der Butterkuchen wurde einfach um ihn herum platziert und um die von der niedersächsischen Kunstkritik hoch gerühmten »Hasenmenschen im Zeitalter der Angst«. Mit den »Hasenmenschen« war Ulrich Wendland bekannt geworden, das waren Fabelwesen, die entweder dem Konsum nachjagten oder selbst von der kapitalistischen Warengesellschaft verfolgt wurden wie Hasen vom Jäger. Auf einer Zeichnung war zum Beispiel ein Hasenmensch dargestellt, der von Hunderten Lockenwicklern angegriffen wurde wie Tippi  Hedren von den Vögeln bei Hitchcock.
    Ebenso und fast pünktlich zum Butterkuchen: Paul Kück, der berühmte Großvater, der Rodin des Nordens, wie es Pauls Großmutter ihrem Enkelkind beigebracht hatte, mit kurz gerolltem
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