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Der Mann im braunen Anzug

Der Mann im braunen Anzug

Titel: Der Mann im braunen Anzug
Autoren: Agatha Christie
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schätzen, obwohl ich nicht übermäßig traurig war. Papa hatte mich nie geliebt. Nein, da war keine starke Bindung zwischen uns, aber wir gehörten zusammen; ich hatte für ihn gesorgt und im Geheimen sein Wissen bewundert. Es schmerzte mich tief, dass er gerade in dem Moment sterben musste, als sein Lebensinteresse an einem Höhepunkt angelangt war. Ich wäre ruhiger gewesen, wenn ich ihn so hätte bestatten dürfen, wie es seinem Leben entsprach: In einer Höhle, umgeben von Rentierknochen und Feuersteinen. Aber die öffentliche Meinung zwang mir ein ordentliches Grab mit Marmorsockel in unserem grässlichen Friedhof auf. Die Trostworte des Vikars drangen nicht in mein Herz, obgleich sie gut gemeint waren.
    Es dauerte einige Zeit, bis ich begriff, dass ich nun wirklich die Freiheit besaß, die ich mir so lange erträumt hatte. Ich war eine Waise, völlig mittellos – aber frei. Erst jetzt drang auch die besondere Freundlichkeit aller Leute in mein Bewusstsein. Der Vikar versuchte mich zu überzeugen, dass seine Frau dringend eine Gesellschafterin benötigte. In unserer kleinen Bibliothek brauchte man plötzlich eine Assistentin. Und schließlich erschien unser dicker Arzt bei mir. Er stotterte lange Zeit herum, bis er mich endlich fragte, ob ich seine Frau werden wolle.
    «Das ist sehr freundlich von Ihnen», sagte ich, «aber ich muss leider ablehnen. Ich heirate nicht – oder höchstens dann, wenn ich ganz irrsinnig verliebt bin.»
    «Und Sie glauben nicht…»
    «Nein, bestimmt nicht.»
    Er seufzte. «Mein liebes Kind, was gedenken Sie denn zu tun?»
    «Ich will Abenteuer erleben und die Welt sehen», entgegnete ich, ohne zu zögern.
    «Miss Anne, Sie sind noch ein halbes Kind und können nicht verstehen, wie…»
    «… wie schwierig alles für mich sein wird? O doch, Doktor, das ist mir ganz klar. Ich bin kein sentimentales Schulmädchen, wissen Sie; ich bin eher eine harte, gewinnsüchtige Frau. Das würden Sie bald merken, wenn Sie mit mir verheiratet wären.»
    «Wollen Sie sich’s nicht noch einmal überlegen?»
    «Ich kann nicht.»
    Er seufzte wiederum. «Dann mache ich Ihnen einen anderen Vorschlag. Meine Tante in Wales sucht eine junge Dame als Haushaltshilfe. Würde Ihnen das zusagen?»
    «Nein, Doktor. Ich gehe nach London und halte die Augen offen. Sie werden sehen, mein erstes Lebenszeichen bekommen Sie aus China oder aus Timbuktu.»
    Mein nächster Besucher war Mr Flemming, Papas Anwalt. Er kam extra von London, um mit mir zu sprechen. Da er selbst ein großer Anthropologe war, bewunderte er Papas Werke sehr. Er nahm meine Hände und tätschelte sie liebevoll.
    «Mein armes Kind», sagte er, «mein armes, armes Kind!»
    Ohne heucheln zu wollen, fand ich mich in die Rolle der armen, bedauernswerten Waise gedrängt. Es war wie eine Hypnose. Er behandelte mich väterlich freundlich und schien mich für ein dummes kleines Ding zu halten, das schutzlos der bösen Welt gegenübersteht. Es war völlig zwecklos, ihn eines Besseren belehren zu wollen. Und wie sich die Dinge entwickelten, war es vielleicht ganz gut so.
    «Mein liebes Kind, können Sie mir wohl folgen, wenn ich versuche, Ihnen einiges klarzumachen?»
    «O ja, sicher.»
    «Sie wissen, dass Ihr Vater ein großer Mann war. Erst die Nachwelt wird ihn richtig schätzen. Aber er war leider kein guter Geschäftsmann.»
    Das wusste ich auch ohne Mr Flemming, aber ich sagte nichts. Er fuhr fort: «Sie werden wahrscheinlich nicht viel davon verstehen, aber ich will versuchen, mich so klar wie möglich auszudrücken.»
    Seine klare Darstellung der Lage zog sich sehr in die Länge. Das Ergebnis war, dass ich das Leben mit einem Vermögen von 87 Pfund und 17 Shilling zu meistern hatte. Der Betrag schien nicht gerade überwältigend. Ich wartete mit einiger Spannung auf das, was nun kommen musste. Sicherlich hatte Mr Flemming eine Tante irgendwo in Schottland, die dringend eine junge Gesellschafterin benötigte. Doch das war ein Irrtum.
    «Und nun lassen Sie uns über Ihre Zukunft reden. Soviel ich weiß, besitzen Sie keine näheren Verwandten.»
    «Ich habe niemanden auf der ganzen Welt», seufzte ich und fühlte mich als wahre Filmheldin.
    «Haben Sie Freunde hier?»
    «Jedermann war sehr nett zu mir», antwortete ich.
    «Wer sollte nicht nett sein zu einem so reizenden Kind», sagte er galant. «Nun gut, meine Liebe, wir müssen sehen, was da zu tun ist.» Er zögerte, ehe er fortfuhr: «Wie wäre es, wenn Sie vorläufig zu uns kämen?»
    London!
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