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Der Mann im braunen Anzug

Der Mann im braunen Anzug

Titel: Der Mann im braunen Anzug
Autoren: Agatha Christie
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war, und Papa sich in die Vergangenheit versenkte, lastete die praktische Seite des Daseins auf meinen Schultern. Ich bekenne, dass ich alles von Herzen hasse, was ins Paläolithikum zurückgeht, und obwohl ich Papa bei der Abfassung seines Werkes über Die Neandertaler und ihre Vorfahren helfen musste, empfand ich es immer als ein Glück, dass diese Rasse vor undenklichen Zeiten ausstarb.
    Ob Papa wusste, wie ich diesbezüglich fühlte, kann ich nicht sagen, aber auf jeden Fall hätte es ihn nicht interessiert. Die Ansichten anderer Menschen ließen ihn völlig kalt. Wahrscheinlich zeigte sich darin seine Größe. In ähnlicher Weise war er auch unbelastet von den Notwendigkeiten des täglichen Lebens. Er aß, was man ihm vorsetzte, doch immer wieder überraschte es ihn peinlich, dass Lebensmittel auch bezahlt werden mussten. Wir schienen nie im Besitz von Geld zu sein. Papas Berühmtheit war nicht von jener Art, die Banknoten einbrachte.
    Ich sehnte mich nach Abenteuern, nach Liebe und Romantik – und schien zu einem Leben eintöniger Nützlichkeit verurteilt. In unserem Dorf gab es eine Leihbibliothek, die eine ganze Menge zerfetzter Romane hatte. Bei ihrer Lektüre schwelgte ich in Abenteuern, Gefahren und Liebesromantik.
    Doch ohne dass ich es ahnte, war das Abenteuer ganz nahe.
    Sicherlich gibt es unzählige Menschen auf der Welt, die nie etwas von einem prähistorischen Schädelfund in der Broken-Hill-Mine in Nord-Rhodesien gehört haben. Ich kam eines Morgens ins Wohnzimmer und fand Papa vor Erregung einem Herzschlag nahe. Er überfiel mich sofort mit der Geschichte.
    «Hast du das begriffen, Anne? Zweifellos sind gewisse Ähnlichkeiten mit dem Schädel von Java vorhanden, aber nur ganz oberflächliche, unwesentliche. Hier haben wir endlich den Beweis für die These, die ich seit jeher verfechte, nämlich dass die Urform des Neandertalers aus Afrika stammt. Viel später erst tauchte sie in Europa auf…»
    «Nicht, Papa! Keine Marmelade zum Fisch!», sagte ich hastig und hielt die Hand meines geistesabwesenden Vaters zurück.
    «Wir müssen sofort hinfahren», erklärte er bestimmt und erhob sich. «Es ist keine Zeit zu verlieren. Sicherlich werden dort noch viele weitere Funde gemacht, Geräte und Werkzeuge, und ich muss wissen, in welche Periode diese Funde einzuordnen sind. Ja, bald wird eine kleine Armee von Archäologen nach Rhodesien starten – aber wir müssen ihnen zuvorkommen. Geh heute noch wegen der Karten zu Cook, Anne.»
    «Und wie stellst du dir die Bezahlung vor, Papa?»
    Er warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. «Deine Gedankengänge enttäuschen mich schwer, mein Kind. Wir dürfen nicht so kleinlich denken, wenn es sich um die Wissenschaft handelt.»
    «Ich befürchte nur, dass Cook in dieser Hinsicht kleinlich denken wird.»
    Papa schien peinlich berührt. «Dann wirst du eben zur Bank gehen und Geld holen.»
    «Wir haben kein Guthaben mehr auf der Bank.»
    «Mein Kind, ich kann mich wirklich nicht mit so nebensächlichen Dingen abgeben. Darum musst du dich kümmern. Schreib doch an meinen Verleger.»
    Dieser Weg schien mir äußerst zweifelhaft, denn Papas Bücher brachten mehr Ehre als Geld ein. Aber ich schwieg. Der Gedanke an eine Reise nach Rhodesien gefiel mir ausgezeichnet. Dann blickte ich ihn forschend an; irgendetwas an seiner Erscheinung stimmte nicht.
    «Papa, deine Stiefel passen nicht zusammen. Zieh den braunen aus und nimm dafür den Zweiten schwarzen. Und vergiss nicht deinen Schal. Es ist sehr kalt heute.»
    Ein paar Minuten später stakte Papa davon, korrekt angezogen und mit Schal. Spätabends erst kehrte er wieder heim, ohne Mantel und ohne Schal. Ich machte eine ärgerliche Bemerkung.
    «Ach ja, Anne, du hast ganz Recht. Ich habe beides in der Höhle ausgezogen. Man wird dort so schmutzig.»
    Die schmutzige Höhle war der einzige Grund, warum wir in dem kleinen Nest wohnten. Es waren dort viele Funde aus der späten Eiszeit gemacht worden, und unser Dorf besaß sogar ein Museum mit Gegenständen und Überresten aus der Aurignac-Kultur. Der Kurator und Papa verbrachten die meiste Zeit unter der Erde, wo sie nach Knochen von Höhlenbären und Nashörnern buddelten.
    Papa hustete die ganze Nacht. Am nächsten Morgen hatte er Fieber, und ich ließ den Arzt kommen.
    Armer Papa – er hatte nie Glück. Es war eine doppelte Lungenentzündung, und ein paar Tage später starb er.

2
     
    Alle Leute waren sehr freundlich zu mir. In meiner Verstörtheit wusste ich das zu
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