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Der Mann, der's wert ist

Der Mann, der's wert ist

Titel: Der Mann, der's wert ist
Autoren: Eva Heller
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mußte ihr Hut und Stab auf
einem violetten Sofakissen reichen und dabei einen Knicks vor ihr machen. Heute
bin ich sicher, daß ich die Rolle nur bekam, weil sich alle aus Annabells
Klasse geweigert hatten, Annabells Dienstmädchen zu spielen. Mein Vater meinte
damals, ich hätte im wahrsten Sinne die einzig tragende Rolle gehabt. Meine
Mutter lobte nur Annabell. So beschloß ich bereits mit neun Jahren, niemals
Bühnenstar zu werden.
    Annabell stellte erst nach dem
Abitur fest, daß ihre Stimme gar nicht so außergewöhnlich war. Außerdem stellte
sie fest, daß ihr Abiturzeugnis ebenfalls nicht außergewöhnlich war. Und bei
der Aufnahmeprüfung zur Schauspielschule fiel sie durch. Also fing sie an,
Pädagogik zu studieren. Und noch vor dem Examen wurde Annabell Mutter.
    Trotzdem blieb meine Mutter
eine unverbesserliche Optimistin, was Annabell betrifft. Irgendwie ist
Annabell, emotional gesehen, das Kind meiner Mutter, ich bin das Kind meines Vaters.
Das ist mir auch lieber so. Dabei sieht Annabell mit ihren kurzen gelbbraunen
Haaren eher meinem Vater ähnlich. Sie kümmert sich auch genausowenig wie mein
Vater um die Frisur. Solch oberflächlicher Scheiß interessiert sie nicht, als
Mutter habe sie Wesentlicheres zu tun, erzählt sie jedem. Sie habe gelernt, zu
sich selbst zu stehen, sie habe ihre eigene Identität entdeckt. Kein Mensch
käme auf die Idee, ihr sogenanntes Aussehen eine Erwähnung wert zu finden, also
erzählt sie ständig, daß es ihr egal ist, wie sie aussieht. Und glaubt, daß sie
dafür bewundert wird! An diesem Abend trug Annabell einen ihrer »weiblichen«
Röcke. Einen graubraungrünen indischen Lappenrock, aus naturreiner Seide,
behauptet sie, so zerknittert wie gebrauchtes Klopapier. Als Oberteil einen
grauen Fetzen mit spitzem Ausschnitt und weit ausgeschnittenen Armlöchern. Alle
Oberteile, die Annabell trägt, müssen weitausgeschnittene Armlöcher haben: nur
so ist gewährleistet, daß jeder, der neben ihr steht oder sitzt, ihre Mutterhängebrust
sieht und, darauf legt sie fast noch mehr Wert, ihre Achselhaare. Sie sind so
lang, daß man sie sogar sieht, wenn sie die Arme runterhängen läßt. Aber das
genügt ihr nicht: Dauernd legt Annabell ihre Hände auf dem Kopf zusammen, damit
man die krausen Haare in ihrer ganzen natürlichen Ekligkeit sieht. Das ist ihre
Lieblingspose. Gerne wackelt sie dabei mit den Armen vor und zurück — so wird
der wahnsinnig natürliche Geruch ihrer Achselhaare besser verbreitet.
     
    * * *
     
    Solveig saß unter dem Tisch.
Eigentlich sollte sie neben meiner Mutter sitzen, aber sie hatte darauf
bestanden, heute ein Kätzchen zu sein. Und Kätzchen essen unter dem Tisch. Im
Gegensatz zu Annabell ist Solveig immer todschick angezogen. Sie trug ihr
himmelblaues Laura-Ashley-Kleid mit großem Spitzenkragen und eine himmelblaue
Satinschleife auf den flachsblonden Haaren. Von weitem sah sie aus wie ein
Engel.
    Vorher, als wir die Pastete auf
Champagnergelee aßen, hatte sie kätzchenmäßig unter dem Tisch an meinen
Fogalstrümpfen gekratzt, die einzigen teuren Strümpfe, die ich besitze. Ich
hatte ihr zugeflüstert, so daß es Annabell nicht hörte, wenn sie nicht sofort
aufhört, würde ich ihren Videorecorder kaputtmachen. Davor hat sie Angst. Der
Videorecorder ist der einzige in diesem Haushalt, der nicht Solveigs Wünschen
gehorcht: Er funktionierte manchmal nicht. Dabei ist der Videorecorder das
einzige, was Solveig nicht kaputtmachen will. Deshalb glaubt sie, wenn der
Videorecorder kaputt ist, hätte ihn einer der Erwachsenen kaputtgemacht.
     
    * * *
     
    Sicher vor Solveig stand unser
grandioses Modell, die preisgekrönte Abschlußarbeit von Elisabeth und mir, auf
der hohen Kommode. Elisabeth hatte das Modell zur Feier des Tages mitgebracht,
damit es alle bewundern konnten: das Modell unserer Bankfiliale FABER
& LEIBNITZ. Mit Schalterbereichen, Arbeitsbereich und
Kundenberatungsbereichen, die wir als kleine, abgeschlossene Zimmer konzipiert
hatten. Wir hatten uns nämlich sorgfältig informiert, welche Raumprobleme bei
Banken auftauchen, und erfahren, daß es vielen Kunden heb ist, bei
Bankgesprächen nicht gesehen zu werden. Deshalb bekamen wir für unsere
Konzeption eine bessere Bewertung als alle anderen, die die modernen offenen
Beratungsbereiche präsentiert hatten. Aber das war nur der theoretische Aspekt.
Unser Modell sah auch am schönsten aus. Unsere Bankfiliale war altmodisch wie
ein viktorianisches Kontor, dunkelgrün, mit winzigen
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