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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Autoren: Oliver Sacks
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seiner Frau in die Küche und fragte sie, wie er es zum Beispiel schaffte, sich anzuziehen. «Es ist genau wie beim Essen», erklärte sie. «Ich lege ihm seine Kleider an der gewohnten Stelle hin, und er zieht sich ohne Schwierigkeiten an. Dabei singt er vor sich hin. Das tut er bei allem, was er macht. Aber wenn er unterbrochen wird und den Faden verliert, ist er ratlos - dann weiß er mit seinen Kleidern oder mit seinem eigenen Körper nichts anzufangen. Er singt die ganze Zeit: Eßlieder, Anziehlieder, Badelieder, alles mögliche. Er kann nichts tun, ohne ein Lied daraus zu machen. »
    Während wir miteinander sprachen, wurde ich auf die Bilder an den Wänden aufmerksam.
    Ja», sagte Frau P., «er war nicht nur Sänger, sondern auch ein talentierter Maler. Seine Bilder wurden jedes Jahr in der Hochschule ausgestellt. »
    Neugierig betrachtete ich die Gemälde. Sie waren chronologisch geordnet. Alle seine früheren Werke waren realistisch, wirklichkeitsgetreue Darstellungen. Sie drückten Stimmungen aus und gaben eine Atmosphäre wieder, waren aber detailliert und konkret. Über die Jahre aber trat die Lebhaftigkeit, der konkrete, naturalistische Stil immer mehr hinter abstrakten, ja geometrischen und kubistischen Formen zurück. Die letzten Bilder schließlich waren, wenigstens für mich, völlig unverständlich: Sie bestanden nur noch aus chaotischen Linien und Farbklecksen. Ich sprach Frau P. darauf an.
    « Ach, was seid ihr Ärzte doch für Philister!» rief sie. « Sehen Sie denn nicht seine künstlerische Entwicklung? Er hat den Realismus früherer Jahre abgestreift und sich der abstrakten, stilisierten Kunst zugewandt. »
    Nein, das ist es nicht, dachte ich (hütete mich aber, dies vor Frau P. auszusprechen). Ihr Mann hatte tatsächlich dem Realismus den Rücken gekehrt und sich der stilisierten Wiedergabe des Abstrakten zugewandt, aber es handelte sich hierbei nicht um eine künstlerische, sondern eine pathologische Entwicklung - um die Entwicklung einer tiefgreifenden visuellen Agnosie, in deren Verlauf sich jede Fähigkeit zur Vorstellung und Vergegenständlichung, jeder Sinn für das Konkrete, die Realität, auflöste. Diese Bilder waren Zeugnis einer pathologischen Entwicklung, die nicht in den Bereich der Kunst, sondern in den der Neurologie fiel.
    Aber hatte, so fragte ich mich, Frau P. nicht teilweise recht? Denn es geschieht ja oft, daß es zu einem Konflikt zwischen pathologischen und kreativen Kräften und manchmal auch (was noch interessanter ist) zu einem Zusammenwirken zwischen beiden kommt. In Dr. P. s kubistischer Periode hatte vielleicht eine sowohl künstlerische wie auch pathologische Entwicklung stattgefunden, und beides gemeinsam schuf eine neue Form; denn im selben Maße, wie er den Sinn für das Konkrete verlor, vergrößerte sich sein Sinn für das Abstrakte, so daß er eine große Sensibilität für die strukturellen Elemente der Linie, der Abgrenzung, der Kontur entwickelte - bis er schließlich - beinahe wie Picasso - über die Fähigkeit verfügte, jene abstrakten Gliederungen, die in das Konkrete eingebettet sind und gewöhnlich darin untergehen, nicht nur zu sehen, sondern auch wiederzugeben... In den letzten Bildern allerdings herrschte, fürchte ich, nur Chaos und Agnosie.
    Wir gingen wieder in das große Musikzimmer mit dem Bösendorfer-Flügel, wo Dr. P. sein letztes Stück Kuchen summte.
    «Nun, Dr. Sacks», sagte er, «ich sehe, daß Sie mich für einen interessanten Fall halten. Können Sie mir sagen, was mir fehlt? Können Sie mir etwas empfehlen?»
    «Ich kann Ihnen nicht sagen, was Ihnen fehlt», antwortete ich, «aber ich werde Ihnen sagen, was mir an Ihnen gefällt. Sie sind ein ausgezeichneter Musiker, und Musik ist Ihr Leben.
    Was ich in einem Fall wie dem Ihren verschreiben würde, ist ein Leben, das ausschließlich aus Musik besteht. Die Musik hat ja für Sie schon immer im Mittelpunkt gestanden- machen Sie sie jetzt zu Ihrem Leben. »
    Das war vor vier Jahren. Ich habe Dr. P. nie wiedergesehen, aber ich habe mich oft gefragt, wie er, angesichts des Verlustes seines visuellen Vorstellungsvermögens und der Unversehrtheit seiner herausragenden Musikalität, die Welt wahrnahm. Ich glaube, daß die Musik für ihn an die Stelle der bildlichen Eindrücke getreten war. Er verfügte nicht über ein «Körperbild», sondern über «Körpermusik». Dies ist der Grund, warum er sich so fließend bewegen konnte, aber in völlige Verwirrung geriet, wenn die «innere
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