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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Autoren: Oliver Sacks
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die es ihm er möglichten, gezielt Vermutungen anzustellen? Sobald diese auffallenden «besonderen Kennzeichen» fehlten, war er völlig ratlos. Aber ihm fehlte nicht nur das Erkennungsvermögen, die gnosis - seine ganze Vorgehensweise war irgendwie grundfalsch: Er ging an diese Bilder - selbst an die von Menschen, die ihm nahestanden - heran, als handle es sich um abstrakte Puzzles oder Tests. Er betrachtete sie nicht, er setzte sich selbst nicht in Beziehung zu ihnen. Kein Gesicht war ihm vertraut, kein einziges war für ihn ein «Du». Jedes von ihnen stellte für ihn ein «Es», eine Ansammlung von Elementen dar. Dr. P. verfügte also über eine formale, aber über keinerlei personale Gnosis. Das erklärte seine Indifferenz, seine Blindheit für die Sprache der Mimik. Für uns ist ein Gesicht Ausdruck der Persönlichkeit - wir sehen das Individuum gewissermaßen durch seine persona, sein Gesicht. Für Dr. P. jedoch existierte keine persona in diesem Sinne - keine äußerliche persona und keine innere Persönlichkeit.
    Auf dem Weg zu ihm hatte ich mir eine auffällige rote Rose gekauft und sie in mein Knopfloch gesteckt. Nun zog ich sie heraus und gab sie ihm. Er nahm sie in die Hand wie ein Botaniker oder Morphologe, der eine Probe untersucht - nicht wie ein Mensch, dem man eine Blume überreicht.
    «Etwa fünfzehn Zentimeter lang», bemerkte er. «Ein rotes, gefaltetes Gebilde mit einem geraden grünen Anhängsel.» «Ja», ermunterte ich ihn, «und was meinen Sie, was es ist, Dr. P.?»
    « Schwer zu sagen. » Er schien verwirrt. « Ihm fehlt die einfache Symmetrie der anderen Körper, obwohl es vielleicht eine eigene, höhere Symmetrie besitzt ... Ich glaube, es könnte eine Blume oder eine Blüte sein. »
    «Könnte sein?» fragte ich nach. «Könnte sein», bestätigte er.
    «Riechen Sie doch einmal daran», schlug ich vor, und wieder sah er irgendwie verdutzt aus, als hätte ich ihn gebeten, eine höhere Symmetrie anhand ihres Geruchs zu identifizieren. Aber höflich wie er war, kam er meiner Aufforderung nach und hielt die Rose an seine Nase. Mit einemmal hellte sich sein Gesicht auf.
    «Herrlich!» rief er. «Eine junge Rose. Welch ein himmlischer Duft!» Er begann zu summen. «Die Rose, die Lilie... » Es hatte den Anschein, als vermittle sich ihm die Realität nicht über den Gesichts-, sondern über den Geruchssinn.
    Ich unternahm noch einen letzten Versuch. Es war ein kalter Vorfrühlingstag, und ich hatte meinen Mantel und meine Handschuhe auf das Sofa gelegt.
    «Was ist das?» fragte ich und zeigte ihm einen Handschuh. «Darf ich das mal sehen?» bat er mich und untersuchte den Handschuh ebenso eingehend wie zuvor die geometrischen Körper.
    «Eine durchgehende Oberfläche», sagte er schließlich, «die
    eine Umhüllung bildet.» Er zögerte. «Sie scheint - ich weiß nicht, ob das das richtige Wort dafür ist - fünf Ausstülpungen zu haben. »
    «Ja», sagte ich vorsichtig. «Sie haben mir eine Beschreibung gegeben. Sagen Sie mir nun, was es ist. »
    «Eine Art Behälter?» «Ja, aber für was?»
    «Für alles, was man hineintut!» antwortete Dr. P. lachend. «Da gibt es viele Möglichkeiten. Man könnte es zum Beispiel als Portemonnaie verwenden, für fünf verschiedene Münzgrößen. Man könnte... »
    Ich unterbrach seinen Gedankenfluß. «Kommt es Ihnen nicht bekannt vor? Könnten Sie sich vorstellen, daß es an einen Teil Ihres Körpers passen würde?»
    Er machte ein ratloses Gesicht. [1]
    Kein Kind würde von «einer durchgehenden Oberfläche, die eine Umhüllung bildet» sprechen, aber jedes Kind, selbst ein Kleinkind, würde einen Handschuh augenblicklich als solchen erkennen und in ihm etwas Vertrautes sehen, da seine Form der der Hand ähnelt. Nicht so Dr. P. Nichts, was er sah, war ihm vertraut. In visueller Hinsicht irrte er in einer Welt lebloser Abstraktionen umher. Es gab für ihn keine wirkliche visuelle Welt, da er kein wirkliches visuelles Selbst besaß. Er konnte über Dinge sprechen, aber er sah sie nicht als das, was sie sind. Hughlings Jackson schrieb über Patienten, deren linke Gehirnhälfte geschädigt war und die an Aphasie litten, sie hätten die Fähigkeit zu «abstrakten» und «propositionalen» Gedanken verloren, und verglich sie mit Hunden (oder vielmehr verglich er Hunde mit Patienten, die an Aphasie litten). Dr. P. s Gehirn dagegen arbeitete wie ein Computer. Gleichgültig wie ein Computer stand er der visuellen Welt gegenüber, und - was noch verblüffender war
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