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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Autoren: Oliver Sacks
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- wie ein Computer analysierte er sie, indem er sich an charakteristische Merkmale und schematische Beziehungen hielt. Er erkannte, wie bei einem Phantombild, schematische Strukturen, ohne damit auch deren Essenz zu erfassen.
    Meine Untersuchungen hatten mir bisher keinen Zugang zu Dr. P. s innerer Realität verschafft. Waren sein visuelles Gedächtnis und das entsprechende Vorstellungsvermögen eigentlich noch intakt? Ich bat ihn, in seiner Erinnerung oder in seiner Vorstellung einen der Plätze in unserer Stadt zu überqueren und mir die Gebäude zu beschreiben, an denen er vorbeikam. Er zählte die auf der rechten Seite, nicht aber die zu seiner Linken auf. Dann bat ich ihn, sich vorzustellen, er betrete den Platz von Süden her. Wieder beschrieb er nur die Gebäude zur Rechten, ebenjene, die er zuvor nicht genannt hatte. Die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite, die er gerade eben noch vor seinem inneren Auge «gesehen» hatte, blieben jetzt unerwähnt - wahrscheinlich »sah» er sie nicht mehr. Es war offensichtlich, daß seine Schwierigkeiten mit der linken Seite, seine das Gesichtsfeld betreffenden Ausfälle, gleichermaßen innerer wie äußerer Natur waren und seine visuelle Erinnerung und Vorstellung in zwei Hälften teilten.
    Wie sah es nun auf einer höheren Ebene mit diesem inneren visuellen Vorstellungsvermögen aus? Ich dachte an die fast halluzinatorische Intensität, mit der Tolstoi seine Figuren beschreibt und mit Leben erfüllt, und fragte Dr. P., ob er Anna Karenina) kenne. Er konnte sich ohne Schwierigkeiten an bestimmte Vorfälle in diesem Roman erinnern und die Handlung fehlerfrei nacherzählen, ließ jedoch die visuellen Charakteristika von Figuren und Szenen aus. Er wußte noch, was die Personen gesagt, nicht aber, wie sie ausgesehen hatten; und obwohl er ein bemerkenswertes Gedächtnis hatte und auf Befragen Beschreibungen visueller Art fast wörtlich zitieren konnte, sagten ihm diese offenbar nichts - sie entbehrten für ihn sensorischer, imaginativer und emotionaler Realität. Der Befund war klar: Es lag bei ihm auch eine innere Agnosie vor. [2]
    Ich merkte jedoch bald, daß dies nur bei bestimmten For men der Visualisierung der Fall war. Wenn es um Gesichter oder Szenen ging, um Erzählungen und Schauspiele, bei denen bildliche Eindrücke im Vordergrund stehen, war sie stark beeinträchtigt, ja fast nicht vorhanden.
    Die Visualisierung von Schemata jedoch war erhalten geblieben, vielleicht sogar verstärkt worden. Als ich mit ihm eine Partie Blindschach spielte, fiel es ihm nicht schwer, sich das Schachbrett und die Züge vorzustellen - er schlug mich sogar vernichtend.Lurija schrieb über den Patienten Sasetzkij, er habe die Fähigkeit, Spiele zu spielen, völlig verloren, seine «lebhafte Phantasie» jedoch sei unversehrt. Sasetzkij und Dr. P. lebten in Welten, die einander spiegelbildlich entsprachen. Der traurigste Unterschied zwischen beiden aber war, das Sasetzkij wie Lurija bemerkt, «mit der verbissenen Zähigkeit eines Verurteilten versuchte, seine verlorengegangenen Fähigkeiten wiederzuerlangen», während Dr. P. nicht kämpfte und nicht wußte, was er verloren hatte - ja nicht einmal wußte, daß etwas verlorengegangen war. Aber wessen Fall war tragischer, wer war mehr verdammt? Der Mann, der um seinen Zustand wußte, oder der, der sich dessen nicht bewußt war?
    Als die Untersuchung beendet war, bat uns Frau P. zu Tisch. Es gab Kaffee und verschiedene köstliche, kleine Kuchen. Dr. P. machte sich fröhlich summend und mit Appetit darüber her. Geschwind, ohne nachzudenken, mit fließender, ja geradezu melodischer Bewegung zog er den Kuchenteller zu sich heran und wählte einige Stücke aus. Es war ein dahineilender Strom, ein Lied aus Essen und Trinken, das plötzlich durch ein lautes, energisches Klopfen an der Tür unterbrochen wurde.
     
    Aufgeschreckt, fassungslos, wie gelähmt durch die Unterbrechung, hörte Dr. P. auf zu essen und verharrte mit einem Gesichtsausdruck, in dem sich unbestimmte, ziellose Verwirrung spiegelte, bewegungslos am Tisch. Er sah den Tisch, aber er erkannte ihn nicht mehr; er nahm ihn nicht mehr als einen Tisch wahr, an dem er Kuchen aß. Seine Frau schenkte ihm Kaffee ein, und der Duft stieg ihm in die Nase und brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Gleich darauf nahm er die Melodie des Essens wieder auf.
    Ich fragte mich, wie er wohl sein Leben bewältigte. Was geschah, wenn er sich anzog, auf die Toilette ging, ein Bad nahm? Ich folgte
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