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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Autoren: Oliver Sacks
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Musik stand im Mittelpunkt. Dr. P. trat ein und ging zerstreut mit ausgestrecktem Arm auf die Standuhr zu, aber als er meine Stimme hörte, bemerkte er seinen Irrtum und schüttelte mir die Hand. Wir unterhielten uns ein wenig über Konzerte und Aufführungen, die in letzter Zeit stattgefunden hatten, und dann fragte ich ihn schüchtern, ob er mir wohl die Freude machen würde zu singen.
    «Ah, die ‹Dichterliebe›! » rief er. «Aber ich kann keine Noten mehr lesen. Würden Sie mich begleiten?»
    Ich sagte, ich wolle es versuchen. Auf dem wunderbaren alten Flügel klang sogar mein Klavierspiel fehlerfrei, und Dr. P. begann zu singen. Ein gealterter Fischer-Dieskau, aber mit unendlich weicher Stimme. Sie war, ebenso wie sein Ge hör, vollkommen, und er verfügte über ein äußerst präzises
    musikalisches Auffassungsvermögen. Es war offenkundig, daß die Musikhochschule ihn nicht aus Barmherzigkeit beschäftigte.
    Dr. P.s Schläfenlappen waren also intakt: Der für das musikalische Empfinden zuständige Teil der Großhirnrinde arbeitete einwandfrei. Wie aber, so fragte ich mich, stand es mit den Scheitel- und Hinterhauptlappen, besonders mit jenen Bereichen, in denen die Umsetzung visueller Eindrücke stattfindet? Zu meiner Ausrüstung für neurologische Untersuchungen gehören auch einige regelmäßige (platonische) Körper, und ich beschloß, meine Tests mit ihnen zu beginnen.
    «Was ist das?» fragte ich und zeigte ihm den ersten Körper. «Ein Würfel natürlich. »
    «Und das?» fragte ich und holte den nächsten hervor.
    Er bat mich, den Körper näher betrachten zu dürfen, und untersuchte ihn rasch und systematisch. «Ein Dodekaeder. Die anderen brauchen Sie gar nicht erst herauszuholen -einen Ikosaeder erkenne ich ebenfalls. »
    Abstrakte Formen bereiteten ihm offenbar keine Probleme. Wie stand es mit Gesichtern? Ich zeigte ihm Spielkarten. Alle identifizierte er sofort, auch die Buben, Damen, Könige und Joker. Aber diese Bilder waren ja stilisiert, und es war unmöglich zu sagen, ob er die Gesichter erkannte oder lediglich die Muster. Ich beschloß, ihm ein Buch mit Karikaturen zu zeigen, das ich in meiner Aktentasche mitgebracht hatte. Auch hier schnitt er in den meisten Fällen gut ab. Sobald er ein Erkennungsmerkmal wie Churchills Zigarre sah, konnte er das Gesicht identifizieren. Aber auch Karikaturen sind ja formal und schematisch. Ich mußte feststellen, ob er mit wirklichen, erscheinungsgetreu dargestellten Gesichtern etwas anfangen konnte.
    Ich schaltete den Fernseher ein, stellte den Ton ab und fand, nach einigem Suchen, ein Programm, auf dem ein alter Film mit Bette Davis gezeigt wurde. Es lief gerade eine Liebesszene. Dr. P. erkannte die Schauspielerin nicht, aber das mochte auch daher rühren, daß sie in seiner Welt nicht vorkam. Bemerkenswerter war, daß er den Ausdruck auf ihrem Gesicht und dem ihres Partners nicht zu deuten vermochte, obwohl sich ihr Mienenspiel im Verlauf einer einzigen turbulenten Szene von glühender Sehnsucht über Leidenschaft, Überraschung, Abscheu und Wut bis zur romantischen Versöhnung bewegte. Auf nichts von alledem konnte sich Dr.P. einen Reim machen. Er vermochte weder genau zu sagen, was auf dem Bildschirm vor sich ging und welche Rollen die Schauspieler spielten, noch welchen Geschlechts sie waren. Er verstand von der Szene, die sich vor seinen Augen abspielte, soviel wie ein Marsmensch.
    Es war natürlich möglich, daß einige seiner Schwierigkeiten mit der Irrealität dieser Hollywood-Welt zu tun hatten, und mir kam der Gedanke, daß es ihm möglicherweise leichter fallen würde, Gesichter zu identifizieren, die in seinem eigenen Leben eine Rolle spielten. An den Wänden hingen Fotografien von seiner Familie, seinen Kollegen, seinen Studenten und von ihm selbst. Ich hatte gewisse Bedenken, als ich einige davon auswählte und ihm vorlegte. Was vor dem Fernsehgerät noch komisch oder lächerlich gewesen war, bekam nun, da es um das wirkliche Leben ging, etwas Tragisches. Alles in allem erkannte er niemanden - weder seine Familie noch seine Kollegen, seine Studenten oder sich selbst. Einstein erkannte er an dem charakteristischen Schnurrbart und der Frisur, und dasselbe war bei ein oder zwei anderen Bildern der Fall.
    «Ach, Paul! » sagte er, als ich ihm ein Porträt seines Bruders zeigte. «Dieses eckige Kinn und die großen Zähne... Ich würde Paul unter tausend Leuten herausfinden. » Aber war es Paul, den er erkannte, oder zwei, drei Besonderheiten,
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