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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Autoren: Oliver Sacks
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Musik», die er vernahm, aufhörte. Und ebenso erging es ihm mit der äußeren Welt ... [3]
    In seinem Werk (Die Welt als Wille und Vorstellung) bezeichnet Schopenhauer die Musik als Ausdruck des «Willens selbst». Wie fasziniert wäre er von Dr. P. gewesen, einem Mann, dem die Welt als Vorstellung gänzlich verlorengegangen war, der sie sich jedoch als Musik, als Willen, bewahrte!
    Und glücklicherweise blieb dies bis zum Ende so - denn trotz der langsamen Ausbreitung seiner Krankheit (eines massiven Tumors oder eines degenerativen Prozesses in seinem Sehzentrum) lebte und lehrte Dr. P. bis zu seinem Tod Musik.
 Nachschrift
     Wie soll man sich Dr. P.s sonderbare Unfähigkeit erklären, einen Handschuh als einen Handschuh zu deuten und zu beurteilen? Offenbar war er nicht in der Lage, zu einem kognitiven Urteil zu kommen, obwohl er keinerlei Schwierigkeiten hatte, kognitive Hypothesen aufzustellen. Ein Urteil ist intuitiv, persönlich, umfassend und konkret: Wir «sehen» die Beziehung der Dinge zueinander und zu uns selbst. Eben dieses Sehen, die Wahrnehmung dieser Relation, fehlte Dr. P. (obwohl seine Urteile in anderen Bereichen prompt und normal waren). Lag dies an einem Mangel an bildlichen Informationen beziehungsweise an einer fehlerhaften Verarbeitung dieser Informationen?
    (Dies wäre die Erklärung, die die klassische, schematische Neurologie geben würde.)
    Oder war mit Dr. P. s Einstellung etwas nicht in Ordnung, so daß er das, was er sah, nicht zu sich selbst in Relation setzen konnte?
    Diese Erklärungen, oder besser: diese Arten von Erklärungen, schließen sich nicht gegenseitig aus. Da sie verschiedenen Betrachtungsweisen entspringen, können sie beide nebeneinander bestehen und richtig sein. Und dies wird in der klassischen Neurologie implizit und explizit anerkannt: implizit durch Macrae, der die Erklärung für fehlerhafte Schemata oder die fehlerhafte Verarbeitung und Einordnung bildlicher Eindrücke unzulänglich findet; explizit durch Goldstein, wenn er von «abstrakter Einstellung» spricht. Aber die Vorstellung von einer abstrakten Einstellung, die eine «Kategorisierung» zuläßt, trifft auf Dr. P. -und vielleicht auch auf das ganze Konzept, das sich hinter dem Begriff «Urteilsvermögen» verbirgt - nicht zu, denn Dr. P. besaß ja eine abstrakte Einstellung - genauer gesagt: Er besaß nichts anderes. Und gerade dies, die absurde Abstraktheit seiner Einstellung - absurd deshalb, weil sie durch nichts gemildert wurde-, machte es ihm unmöglich, individuelle Gegebenheiten wahrzunehmen, und beraubte ihn seines Urteilsvermögens.
    Merkwürdigerweise beschäftigen sich Neurologen und Psychologen mit allen möglichen Themen, aber fast nie mit «Urteilsfähigkeit» - dabei ist doch gerade das Erlöschen der Urteilsfähigkeit (sei es in spezifischen Bereichen, wie im Fall von Dr. P., oder allgemeiner, wie bei Patienten, die am Korsakow-Syndrom oder am Stirnlappen-Syndrom leiden - siehe auch Kapitel 12 und 13) ein wesentlicher Bestandteil so vieler Störungen im Bereich der Neuropsychologie. Urteilsvermögen und Identität mögen auf der Strecke bleiben, aber die Neuropsychologie befaßt sich nicht damit.
    Und doch ist das Urteilsvermögen, sei es im philosophischen (Kantschen) oder im empirischen und evolutionstheoretischen Sinne, die wichtigste Fähigkeit, die wir besitzen. Ein Tier oder ein Mensch mag sich sehr gut ohne «abstrakte Einstellung» zurechtfinden, wird aber ohne Urteilsvermögen sehr schnell zugrunde gehen. Das Urteilsvermögen ist die erste Fähigkeit, die eine höhere Daseinsform oder ein höheres Bewußtsein ermöglicht. Dennoch wird sie von der klassischen Neurologie (die sich auf neuronale Verknüpfungen beschränkt) ignoriert oder falsch bewertet. Die Antwort auf die Frage, wie es zu einer solch absurden Situation kommen konnte, liegt in der Entwicklungsgeschichte der Neurologie, in den Annahmen, von denen sie ausgeht. Der Ansatz der klassischen Neurologie ist nämlich (wie der der klassischen Physik) immer ein mechanistischer gewesen - von Hughlins Jacksons mechanistischen Analogien bis zu den Computer-Analogien von heute.
    Natürlich ist das Gehirn tatsächlich ein Apparat, ein Computer - nichts an den Erkenntnissen der klassischen Neurologie ist falsch. Aber die mentalen Prozesse, die unser Sein und unser Leben ausmachen, sind nicht nur abstrakt und mechanisch, sondern auch persönlich, und schließen daher nicht nur Klassifizierung und Kategorisierung, sondern auch
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