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Der Mann auf dem Balkon

Der Mann auf dem Balkon

Titel: Der Mann auf dem Balkon
Autoren: Maj Sjöwall;Per Wahlöö
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stand auf und folgte dem Krankenwagen mit den Augen, während das Geheul lauter wurde und dann allmählich erstarb. Nach einigen Minuten war der Wagen nur noch ein kleiner, heller Fleck, der am nördlichen Ende der Straße nach links abbog und aus dem Blickfeld verschwand. Der Mann setzte sich wieder auf seinen Klappstuhl und rührte gedankenverloren in seinem Kaffee, der bereits kalt geworden war. Er saß still und lauschte dem gleichsam widerwilligen und zögernden Erwachen der Stadt.
    Der Mann auf dem Balkon war mittelgroß und von normaler Statur. Sein Gesicht war alltäglich. Er trug ein weißes Hemd, keinen Schlips, ungebügelte braune Gabardinehosen, graue Strümpfe und schwarze Halbschuhe. Er hatte schütteres, glatt nach hinten gekämmtes Haar, eine kräftige Nase und graublaue Augen.
    Es war mittlerweile halb sechs geworden; man schrieb den 2. Juni 1967, und die Stadt hieß Stockholm.
    Der Mann auf dem Balkon kam gar nicht auf den Gedanken, daß er beobachtet werden könnte. Genaugenommen dachte er an überhaupt nichts Besonderes. Er wollte sich etwas später Haferflockenbrei kochen.
    Auf der Straße wurde es allmählich lebendig. Der Strom der Fahrzeuge wurde dichter, und jedesmal, wenn die Ampel an der Kreuzung Rot zeigte, wuchs die Schlange der wartenden Autos. Ein Fahrer eines Brot-Lieferwagens hupte, verärgert über einen Radfahrer, der sich, ohne sich umzusehen, auf die Fahrbahn zwängte. Zwei Autos hinter ihm bremsten scharf.
    Der Mann erhob sich, legte die Unterarme auf das Balkongitter und schaute hinunter auf die Straße. Der Radfahrer wich ängstlich an den Bordstein zurück und schien die Schimpfworte des Brotwagenfahrers nicht zu hören.
    Auf dem Bürgersteig eilten einzelne Fußgänger vorbei. Ein paar Frauen in hellen Sommerkleidern unterhielten sich bei der Tankstelle unterhalb des Balkons. Etwas weiter entfernt führte ein Mann seinen Hund spazieren. Der Mann zerrte ungeduldig an der Leine, während das Tier unbeeindruckt weiter einen Baumstamm umschnüffelte.
    Der Mann auf dem Balkon richtete sich auf, fuhr sich über das schüttere Haar und steckte die Hände in die Taschen. Es war zwanzig Minuten vor acht, und die Sonne stand schon hoch. Er blickte zum Himmel hinauf, wo ein Düsenflugzeug einen wolligen weißen Kondensstreifen über das Hausdach zog. Dann sah er wieder auf die Straße hinunter und beobachtete eine ältere weißhaarige Dame in hellblauem Mantel, die vor der Bäckerei im Haus gegenüber stand. Sie suchte lange in ihrer Tasche, holte schließlich einen Schlüssel heraus und schloß die Tür auf. Er sah, wie sie den Schlüssel abzog und ihn von der Innenseite der Tür her wieder ins Schloß steckte. Dann ging sie hinein und schloß die Tür hinter sieh ab. Hinter der Glasscheibe der Tür verkündete ein heruntergerolltes Rollo GESCHLOSSEN!
    Im selben Augenblick, in dem die Tür geschlossen wurde, öffnete sich eine Seitentür, und ein kleines Mädchen trat auf die sonnenbeschienene Straße. Der Mann auf dem Balkon wich einen Schritt zurück, nahm die Hände aus den Hosentaschen und blieb reglos stehen. Sein Blick war auf das Mädchen unten auf der Straße gerichtet. Das Kind war etwa acht oder neun Jahre alt und trug eine rotkarierte Schultasche. Es hatte einen kurzen blauen Rock an, einen gestreiften Pulli und eine kurzärmelige Jacke. An den Füßen trug es schwarze Holzschuhe, die seine langen, dünnen Beine noch länger und dünner wirken ließen. Das Mädchen wandte sich nach links und ging langsam und mit gesenktem Kopf die Straße entlang.
    Der Mann auf dem Balkon folgte ihm mit den Blicken. Als es ungefähr zwanzig Meter gegangen war, blieb es stehen, hob die Hand an die Brust und stand so einige Zeit still. Dann öffnete es die Tasche und suchte darin herum, während es sich umdrehte und zurückzuwandern begann. Schließlich fing es an zu laufen und verschwand in der Tür, ohne die Tasche zu schließen.
    Der Mann auf dem Balkon stand reglos da und sah die Tür hinter ihm zufallen. Es dauerte einige Minuten, bis das Mädchen wieder herauskam. Nun hatte es die Tasche geschlossen und ging etwas schneller. Das blonde Haar war zu einem Pferdeschwanz hochgebunden und pendelte über dem Rücken hin und her. Als es die Ecke des Häuserblocks erreicht hatte, bog es in die Seitenstraße ein.
    Es war drei Minuten vor acht. Der Mann drehte sich um, ging in die Wohnung hinein und in die Küche. Dort trank er ein Glas Wasser, spülte das Glas aus, stellte es auf den Abwaschtisch
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