Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann auf dem Balkon

Der Mann auf dem Balkon

Titel: Der Mann auf dem Balkon
Autoren: Maj Sjöwall;Per Wahlöö
Vom Netzwerk:
er fest, daß er vier Minuten telefoniert hatte. Bis zum Abgang des Zuges blieb also noch eine Viertelstunde. Der Bahnhof wimmelte wie üblich von Menschen aller Art.
    Wie Martin Beck, ein schlanker Mann mit magerem Gesicht, breiter Stirm und kräftigem Kinn, da etwas verloren mit seiner Reisetasche herumstand, konnte man ihn für einen ratlosen Besucher vom Lande halten, der sich noch nicht in dem Gewimmel der Großstadt zurechtfand.
    »He, du da«, flüsterte jemand mit heiserer Stimme.
    Martin Beck drehte sich um und betrachtete die Sprecherin. Ein etwa vierzehnjähriges Mädchen mit hellem, strähnigem Haar und Minikleid. Es war barfuß und ziemlich schmutzig, um einiges jünger als seine eigene Tochter, aber im ungefähr gleichen Entwicklungsstadium. In ihrer hohlen Hand hielt die Kleine einen Streifen mit vier Fotografien, auf die sie ihn einen Blick werfen ließ.
    Die Herkunft dieser Bilder war leicht zu erraten. Das Mädchen war zu einem der Paßbildautomaten im Bahnhof gegangen, hatte sich auf den Hocker gekniet, das Kleid bis zu den Achselhöhlen hochgezogen und die Münze in den Münzschlitz gesteckt.
    Man hatte die Vorhänge vor diesen Fotozellen in Kniehöhe abgeschnitten, aber das schien nicht nennenswert zu helfen. Er betrachtete die Bilder und dachte, daß die Jugendlichen heutzutage früher erwachsen waren. Außerdem schienen sie nichts von Unterwäsche zu halten. Trotz allem war das fotografische Resultat nicht sonderlich geglückt.
    »Fünfundzwanzig Piepen«, sagte das Kind hoffnungsvoll. Martin Beck schaute sich verwirrt um, und sein Blick fiel auf zwei uniformierte Polizisten an der anderen Seite der Halle. Er ging auf sie zu. Der eine erkannte ihn und grüßte.
    »Könnt ihr nicht für Ordnung unter den Jugendlichen sorgen?« fragte Martin Beck aufgebracht.
    »Wir tun, was wir können, Kommissar«, antwortete der Polizist, der gegrüßt hatte, ein ganz junger Mann mit blauen Augen und gut gepflegtem, blondem Bart.
    Ohne noch etwas zu sagen, drehte sich Martin Beck um und ging zur Glastür, die auf den Bahnsteig führte. Das Mädchen im Minikleid war etwas weiter in die Halle zurückgetreten und betrachtete verstohlen die Bilder. Sie wollte wohl prüfen, was an ihrem Aussehen nicht stimmte.
    Aller Wahrscheinlichkeit nach würde bald irgendein Idiot die Fotos kaufen.
    Dann würde sie zum Humlegärden oder zum Mariatorget gehen und für das Geld Preludintabletten oder Marihuana kaufen. Vielleicht auch LSD.
    Der Polizist, der ihn erkannt hatte, trug einen Bart. Vor vierundzwanzig Jahren, als er selbst zur Polizei kam, trugen Polizisten keine Barte.
    Warum hatte übrigens der andere Polizist, der ohne Bart, nicht gegrüßt? Weil er ihn nicht kannte?
    Vor vierundzwanzig Jahren hatten Polizisten die Leute, die auf sie zukamen, gegrüßt, auch wenn sie nicht Kommissare waren. Oder vielleicht nicht?
    Damals pflegten vierzehnjährige Mädchen auch noch keine Nacktaufnahmen von sich feilzubieten, um sich für den Erlös Narkotika zu kaufen.
    Im übrigen war Martin Beck alles andere als über seinen neuen Rang erfreut, den man ihm zum Jahreswechsel verliehen hatte. Auch sein neues Dienstzimmer im Polizeirevier Süd, draußen in dem lärmenden Industriegebiet bei der Västerberg alle gefiel ihm nicht. Er war auch unzufrieden mit seiner mißtrauischen Frau und damit, daß ein Mensch wie Gunvald Larsson Erster Kriminalässistent werden konnte. Martin Beck saß am Fenster seines Erster-Klasse-Abteils und grübelte.
    Der Zug rollte am Stadshuset vorbei. Martin Beck erkannte den Dampfer »Mariefred«, einen der letzten seiner Art, und etwas später kurz bevor der Zug in südlicher Richtung in den Tunnel einfuhr, Norstedts Verlagshaus. Als der Zug wieder ans Tageslicht kam, erblickte Martin Beck die schönen Grünanlagen des Tantolunden, die ihm bald Alpträume bescheren sollten. Dann hörte er das Echo der Räder als der Zug über die Eisenbahnbrücke rollte.
    Bis zur Ankunft in Södertälje hatte sich seine Laune gebessert. Er kaufte eine Flasche Mineralwasser und ein altes Käsebrötchen von einem der rollenden Blechkästen, die heutzutage in den meisten D-Zügen die Speisewagen ersetzen.

4
    »Tja«, sagte Ahlberg, »so war das also. Es war etwas kühl in jener Nacht, und er hatte einen dieser altmodischen elektrischen Heizöfen neben das Bett gestellt. Später strampelte er sich die Decke ab, die fiel auf den Heizofen und fing Feuer.«
    Martin Beck nickte.
    »Das wirkt völlig plausibel«, fuhr Ahlberg fort.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher