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Der Leuchtturm von Alexandria

Der Leuchtturm von Alexandria

Titel: Der Leuchtturm von Alexandria
Autoren: Gillian Bradshaw
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genannt. Ich war damals noch zu klein, um Theodorion zu sagen. Er war siebzehn, ein gutes Jahr älter als ich, und man nahm es ihm ab, erwachsen zu sein, während ich immer noch als kleines Kind behandelt wurde. Jungen haben sowieso mehr Freiheiten als Mädchen. Als wir beide noch klein waren, spielten wir immer zusammen, spionierten den Haussklaven nach und stibitzten uns etwas aus der Küche. Als wir dann lernen mußten, half ich Thorion bei den Lektionen, die unser Hauslehrer ihm aufgetragen hatte – Bücher waren noch nie seine Stärke, dafür hatte er den Sinn unseres Großvaters fürs Geld geerbt. Und als er die Schule beendet hatte und sein eigenes Zimmer sowie Taschengeld, drei Sklaven und eine eigene Kutsche bekam, da war es fast so, als hätte ich die gleichen Vorrechte erhalten. So sah ich die Sache jedenfalls, und nach einigen Protesten stimmte mir Thorion für gewöhnlich zu.
    Ich fand Thorion im Blauen Hof beim Studium des Latein. Der Blaue Hof hieß wegen seines Brunnens so, da er mit blauen Kacheln und mit Delphinen aus farbigen Mosaiken geschmückt war. Thorion haßte Latein ebenso wie unser alter Hauslehrer Ischyras. Aber im Rechtswesen wird Latein gesprochen, wenn man es in der kaiserlichen Verwaltung zu etwas bringen will, muß man es eben können. Und Thorion wollte es in der Verwaltung zu etwas bringen. »Vater gibt immer nur Geld aus«, pflegte er verächtlich zu sagen. »Pferderennen und irgendwelche Ehrenämter! Ich gehe zum Gericht, um etwas zu verdienen. Man kann dreißig Pfund in Gold bekommen, nur weil man jemanden als Notar empfiehlt!« Er überredete Vater dazu, bei dem Professor für Latein und Recht aus Ephesus studieren zu dürfen, und er erreichte, daß auch ich Latein lernte, um es ihm dann erklären zu können. »Was das Pauken anbetrifft, bist du ganz einfach unschlagbar«, schmeichelte er mir.
    »Hast du den Galen für mich kopiert?« fragte ich ihn. Ich wußte, daß er es nicht getan hatte, aber wenn er es zugeben müßte, hatte ich vielleicht mehr Chancen, daß er mir beim Sezieren helfen würde.
    Er biß auf seinem Griffel herum und warf den Kopf in den Nacken: Nein. Das war noch so eine bäurische Angewohnheit, die Maia verabscheute. Aber Thorion hatte einen Haufen bäurischer Angewohnheiten. Er war groß für sein Alter, hatte breite Schultern und mächtige Pranken; seine Zähne saßen krumm und schief in seinem Mund. Seine Haare waren genauso schwarz wie meine, aber er hatte Naturlocken, während die meinen dauernd mit der Brennschere bearbeitet werden mußten – das war ganz einfach ungerecht! Die Leute meinten, er sähe genau wie unser Großvater aus. Ich dagegen geriete unserer Mutter nach: lang aufgeschossen, mager und knochig, mit großen Augen. »Das war eine wirkliche Dame !« sagten alle Haussklaven. »So vornehm, so höflich!« Aber sie war eine Woche nach meiner Geburt an Kindbettfieber gestorben, und so konnte ich das nicht beurteilen. Ich wäre lieber nach Großvater geraten. »Kann ich dein Zimmer für eine Weile benutzen?« fragte ich meinen Bruder. »Und deine Messer?«
    Thorion sah mich finster an. »Ist sie tot?« fragte er. Er wußte natürlich von der Drossel. Ich hatte sie ihm gezeigt, nachdem ich ihren Flügel geschient hatte, und er war ziemlich beeindruckt gewesen, obwohl er sie im Grunde genommen lieber in Honig gedünstet gesehen hätte.
    »Ich würde dich wohl nicht um deine Messer bitten, wenn sie noch am Leben wäre, oder?«
    Thorion bedachte mich schon wieder mit einem finsteren Blick.
    »Wozu soll das gut sein? Ich kann ja noch verstehen, daß man einem kranken Tier helfen möchte, aber es nach seinem Tod einfach aufzuschneiden…« Thorion und ich hatten uns schon oft deswegen in den Haaren gehabt, aber ich seufzte ergeben und legte ihm meinen Standpunkt noch einmal dar: »Wenn ich verstehe, warum die Drossel gestorben ist, werde ich ihr das nächste Mal eher helfen können.«
    »Wieso beim nächsten Mal? Der Vogel ist doch tot!«
    »Beim nächsten Vogel. Oder dem nächsten Tier.«
    »Oder dem nächsten Menschen? Würdest du auch Menschen aufschneiden, um zu sehen, warum sie gestorben sind?«
    »Die Chirurgen der medizinischen Fakultät von Alexandria tun es. Sie können die Krankheiten besser behandeln, wenn sie wissen, wie der Körper funktioniert. Galen hat es auch getan.«
    »Dann werde ich diese Abschnitte aus dem Galen bestimmt nicht kopieren«, sagte Thorion. »Und was die Ärzte in Alexandria tun, das spielt keine Rolle, Charition.
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