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Der Leuchtturm von Alexandria

Der Leuchtturm von Alexandria

Titel: Der Leuchtturm von Alexandria
Autoren: Gillian Bradshaw
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daß auch Hippokrates in der Umgangssprache seiner Zeit geschrieben hatte und daß es nur einem glücklichen Zufall zu verdanken war, wenn dies ein wundervolles Ionisch war und nicht das uns allen gemeinsame Koine. Aber ich war glücklich, meinen Lieblingsschriftsteller überhaupt lesen zu dürfen, und hielt meinen Mund. So lasen wir dank seiner wundervollen ionischen Vokale also Hippokrates, und ich spielte mit verletzten Singvögeln und kranken Schoßhunden insgeheim die Ärztin und gab mir Mühe, meine Kleider nicht schmutzig zu machen. Mein Bruder Thorion versprach mir dauernd, in der Bibliothek des Celsus einige Abschnitte aus dem Galen für mich zu kopieren. Aber er tat es nie.
    Ich hatte meiner Drossel einen kleinen Napf mit Brot und Milch gebracht. Jetzt würde ich beides an den Wachhund verfüttern müssen: Das Ganze wieder ins Haus zurückzubringen hätte nur unnötige Fragen heraufbeschworen. Ich war sehr traurig, daß der Vogel gestorben war. Der Tod ist immer etwas Trauriges, selbst der Tod eines Vogels, und ich hoffte, die arme Kreatur nicht gequält zu haben, als ich ihr zuvor ihren Flügel geschient hatte. Aber ich konnte ja nicht wissen, daß sie sterben würde. Warum sie wohl gestorben war? Es hatte so ausgesehen, als erhole sie sich, als ich sie alleine gelassen hatte.
    Ich nahm den Vogel in die Hand und untersuchte ihn. Der Flügel war offensichtlich nirgends angeschwollen, also hatte ich den Verband nicht zu fest angelegt – es sei denn, Vögel bekommen nicht auf die gleiche Art Schwellungen wie Menschen. Es war wohl eher so, daß der Stein den Vogel auch innerlich verletzt hatte. An seinem Schnabel entdeckte ich etwas getrocknetes Blut. Er hatte noch nichts von seinem Futter verdaut, deshalb vermochte ich keine Schlüsse aus irgendwelchen Ausscheidungen zu ziehen. Wenn ich ihn sezieren könnte, würde ich erfahren, was mit ihm los war. Aber dafür benötigte ich ein paar ordentliche, scharfe Messer und einen ruhigen Ort, wo ich ungestört arbeiten konnte, ohne daß mich jemand dabei überraschte. Außerdem mußte ich etwas über mein Kleid ziehen. Mit anderen Worten, ich brauchte die Hilfe meines Bruders. Ich legte die tote Drossel in den Korb zurück und kletterte die Leiter vom Heuboden herunter. Außer den Pferden war niemand im Stall. Ich nahm meinen Umhang ab und zupfte das Stroh von ihm herunter, dann warf ich ihn mir wieder über die Schultern und trat in den Hof hinaus. Dort traf ich auf Philoxenos, der ein Paar von den Rennpferden meines Vaters an einer Führungsleine im Kreis laufen ließ. Als ich herauskam, nickte er mir zu. »Hast du deinen kleinen Liebling gefüttert, junge Gebieterin?« fragte er.
    Ich schüttelte den Kopf. »Er ist gestorben.«
    »Oh«, meinte er mitfühlend. Philoxenos liebte Tiere; vor allem Pferde, aber auch Tiere im allgemeinen. Außerdem wußte er allerhand über sie, vor allem kannte er jede Menge Heilmittel für wundgescheuerte Hufe und verstauchte Gelenke. Er fand nichts dabei, den Flügel eines einfachen Vogels zu schienen. Aber er war ein praktisch denkender Mann. »Möchtest du, daß ihn dir jemand kocht?« fragte er. »In Honig gedünstet schmecken Drosseln besonders gut. Meine Frau könnte sie dir zubereiten.«
    »Nein danke. Im Augenblick jedenfalls nicht. Bitte laß ihn bis heute Abend in Ruhe, ja?«
    Er lächelte und nickte. Er vermutete sicher, daß ich bloß zu zimperlich war, einen Vogel zu essen, den ich so verhätschelt hatte. Ich mochte ihm nicht erzählen, daß ich ihn sezieren wollte: Er würde kein Verständnis dafür haben, und er wurde immer sehr ärgerlich, wenn sich seine Gebieter unvernünftig aufführten.
    Die Pferde hatten zu traben aufgehört und standen mit zur Erde gesenkten Köpfen da. Sie schnüffelten in dem Kies nach vereinzelten Strohbüscheln. Philoxenos wandte sich ihnen erneut zu; er knallte mit seiner Peitsche und riß heftig an der Führungsleine. Die beiden setzten sich in Bewegung – allerdings in verschiedene Richtungen. Philoxenos fluchte und zwang sie, wieder gemeinsame Sache zu machen. Er redete ihnen gut zu und lockerte die Zügel, bis sie endlich einträchtig im Kreis herumtrabten. Ich setzte meinen Weg zum Haus fort.
    Unser Haus lag im nordöstlichen Teil von Ephesus, dort, wo das Land zu der Anhöhe ansteigt, die den Namen Pion trägt. Das Haus drängte sich, wenn man so will, regelrecht an die Stadtmauer, die durch den rückwärtigen Garten lief. Wir hatten eine Pforte in die Mauer brechen lassen, so daß
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