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Der letzte Winter

Titel: Der letzte Winter
Autoren: Åke Edwardson
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trat einen Schritt zurück. Der Fußboden war aus Marmor, wahrscheinlich durchzogen von Wärmespiralen. In Marbella froren im Winter nur die Einheimischen. Es war eine offene Wohnung, ohne Flur, die Küche war mitten im Raum, wie eine Insel. Durch die großen Fenster hinter einem Esstisch, der offenbar von House war, sah Winter die Lichter der Stadt. Auf dem Tisch stand eine Flasche Wein. Sie war ungefähr halbvoll oder halbleer.
    »Möchten Sie ein Glas Wein?«, fragte Lentner.
    »Im Augenblick nicht, danke.«
    Lentner ging auf die Dachterrasse. Winter folgte ihm. Lentner nahm ein Weinglas von einem Tisch und trank einen Schluck. Seine Hand zitterte leicht. Er stellte das Glas ab, und die Hand zitterte immer noch. Auf dem Tisch stand eine Petroleumlampe.
    Von der Terrasse hatte man einen Blick nach Westen und Süden, der von Sierra Bermeja bis Málaga reichte. Unten lag die Altstadt, die heute Abend mit ihrer spärlichen Beleuchtung verlassen wirkte. Der Apfelsinenplatz war nur ein Platz. Hinter den schwarzen Fassaden von Mediterraneos und El Fuertes sah er den Strand. Das Meer war jetzt schwarz, genauso schwarz wie der Himmel über Afrika. Auf der Meeresoberfläche blinkten nur wenige Lichter.
    Winter schaute nach Osten. Über Puerto Banús zuckten Lichter, als würden sie sich bewegen. Aber auch über Nueva Andalucia lag ein stiller Abend.
    »Ich glaube, er ist im Augenblick da drüben.« Winter wies mit dem Kopf auf die Lichter. Er wusste, dass Lentner seinem Blick gefolgt war.
    »Woher wissen Sie das?«
    »Es gibt keinen anderen Ort.«
    »Haben Sie nicht Ihre Kollegen in dieser Stadt hinzugezogen?«, sagte Lentner. »Werden nicht alle verdächtigen Orte bewacht?«
    »Dann hätten Sie heute Abend nicht hier gesessen«, sagte Winter nach einer Weile.
    »Nein, das ist wohl wahr.«
    »Sie haben mich gar nicht gefragt, wer ›er‹ ist«, sagte Winter.
    »Ich brauche Sie doch nicht nach etwas zu fragen, was ich weiß«, antwortete Lentner. »Das wäre Zeitverschwendung.«
    Er hob wieder sein Glas, schien jetzt ruhiger zu sein. Das Licht der Petroleumlampe brach sich im Wein und färbte ihn schwarz. Winter sehnte sich nach einem Glas Wein. Später, in einigen Stunden, würde er etwas trinken.
    »Herman hat ein Problem mit der Zeit«, sagte er.
    Lentners Hand zitterte wieder. Er stellte das Glas ab.
    »Ich glaube, er ist der Meinung, dass Sie ihm Zeit gestohlen haben«, fuhr Winter fort. »Sehr viel Zeit.«
    Lentner sagte etwas, das Winter nicht verstand.
    »Was haben Sie gesagt?«
    »Er weiß, wo ich bin.«
    »Warum ist er dann nicht hergekommen?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Warum hat er nicht auch Sie umgebracht?«
    »Vielleicht hat er mir geglaubt«, sagte Lentner.
    »Was geglaubt?«
    »Dass ich mich nicht daran erinnern kann, was passiert ist.« Lentner sah Winter an. »Dass ich mich nie erinnern werde.« Er schaute weg, nach Nueva Andalucia hinüber. »So was nennt man Erinnerungslücken.«
    »Woran erinnern Sie sich nicht?«
    »Zum Beispiel daran, was passiert ist, nachdem Peder Holst mich gewürgt hat. Als er begriff, dass ich es gesehen habe. Er hat es nicht gleich bemerkt, erst nach einer Weile. Am Pool gab es Pflanzen. Sie waren wie eine Mauer. Normalerweise war das gut für ihn. Dort konnte er mit mir machen, was er wollte.«
    »Was hat er getan?«
    »Wie ich schon sagte, er hat mich gewürgt. Das ist das Einzige, woran ich mich erinnere. Sonst kann ich mich an nichts erinnern, weder vorher noch nachher.«
    »Das glaube ich Ihnen nicht. Mensch, Lentner, erzählen Sie endlich, was passiert ist!«
    Lentner zuckte zusammen. Er streckte sich nach dem Weinglas, zog die Hand jedoch wieder zurück.
    »Peder Holst hat sich lange Zeit an mir vergangen. So habe ich es jedenfalls in Erinnerung.« Er ließ den Blick über die Stadt schweifen. Sie leuchtete plötzlich viel intensiver. Seine Stimme war kräftiger geworden. »Aber ich will mich nicht erinnern. Und ich hatte gedacht, ich hätte es vergessen.« Er sah Winter an. »Das mit den Erinnerungslücken ist keine Lüge. Sie hängen mit traumatischen Erlebnissen zusammen.«
    Eins davon, dachte Winter. Und Erik Lentners Bericht war noch lange nicht beendet.
    »Seine Frau hatte ein Verhältnis mit Herman«, fuhr Lentner fort. »Annica. Was für ein Paar. Peder und Annica Holst.« Lentners Blick wanderte wieder über die Stadt, das Meer, den Himmel. »Ich weiß nicht, wie alt Herman damals war, siebzehn, achtzehn. Zu der Zeit hieß er anders mit Nachnamen. Annica
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