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Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf
Autoren: Glen Duncan
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mich in etwas mehr als zwei Stunden in ein Ungeheuer verwandeln würde. In dem Fall bräuchte ich nur möglichst zeitnah zu der Verwandlung darum bitten, ins Bad gehen zu dürfen, mich verwandeln – und sie töten. Ich fragte mich, ob ich wohl dazu in der Lage sein würde. Der Jäger war sicherlich mit Silber bewaffnet. Oder nicht? Oder gar alle?
    »Also gut«, meinte der Jäger, nachdem er ein weiteres Telefonat erledigt hatte. »Es ist Zeit. Kettet sie im Van an. Nein, Augenblick …«
    Er kam auf mich zu und zog ein weiteres Mal das Isolierband aus der Tasche.

58 .
    Poulsom hatte wohl eine weitere Spritze bekommen, denn als ich meinen Platz bei ihm im Käfig wieder einnahm, war er bewusstlos. Ich musste mich ungeheuer anstrengen, von dem Klebeband über dem Mund nicht verrückt zu werden. Unglaublich, was das ausmacht, nicht sprechen zu dürfen. Zusammen mit den Fesseln (diesmal waren Hand- und Fußschellen am Käfig festgemacht) kam ich mir vor wie lebendig begraben.
    Die Fahrt war nicht lang, aber sie war nicht leicht. Stehen ging noch am besten, doch bei dem kurzen Kabel von Handgelenken bis zu den Knöcheln konnte ich mich nur in Bauchnabelhöhe festhalten. Bodenwellen und plötzliche Richtungswechsel warfen mich umher. Poulsom wurde wie ein Salat durch die Gegend geschleudert, wie der Motorradfahrer gesagt hatte. Wenn er aufwachte, würde er von blauen Flecken übersät sein. Falls er je wieder aufwachte.
    Fünf Minuten, bevor wir stehen blieben, wurde das Gelände noch schwieriger. Was sich erst wie eine holprige Straße angefühlt hatte, verwandelte sich in kaum mehr als eine Schotterpiste voller Querrillen und Schlaglöcher. Gleichgewicht zu halten war unmöglich. Poulsom hatte es da besser, sein Körper war entspannt, er bekam nichts davon mit.
    Wir hielten an. Führten ein enges Wenden in drei Zügen durch. Hielten erneut. Die Hecktüren gingen auf. Der Jäger stand da, stützte die Hände in die Hüften und sah mich an. Durch das Gitter hindurch konnte ich sehen, dass wir uns auf einem Pfad befanden, kaum breiter als ein Reitweg, der sich durch lichter werdenden Wald schlängelte, bevor er etwa sechs Meter weiter nach rechts abbog und dann parallel zu einem Bachufer verlief, wie ich hörte und roch. Auf der anderen Bachseite ein schmaler Grasstreifen, ein paar Fliedersträucher, dahinter wieder Bäume. Keine Spur vom Motorradfahrer oder dem Securicor-Menschen.
    »Na, langsam hungrig?«, fragte der Jäger.
    Ich sah an ihm vorbei. Konzentrierte mich darauf, durch die Nase zu atmen. Die Luft war lehmig und feucht. Die Wolkendecke war aufgerissen, der Abendstern funkelte. Meine Nüstern waren heiß und empfindlich. Der Mond ging in weniger als zwei Stunden auf. Die ersten Anzeichen animalischer Klarheit setzten ein, eine Art grausamer Freude an der Kraft, die durch meine Fußsohlen in Knöchel, Schienbeine, Hüfte, Ellbogen, Schultern steigen würde. Wenn ich denn noch so lange lebte.
    »Na, auf geht’s«, meinte der Jäger. »Es gibt Essen auf Rädern. Besser geht’s nicht.«
    Poulsom, meinte er.
Poulsom meint, sie hätten an alles gedacht
, hatte ich zu Jake gesagt, als wir über den Vollmond sprachen, die Verwandlung, den Hunger,
was immer das heißen soll
. Was Poulsom auch damit gemeint hatte, das sicherlich nicht. Es kostete mich alle Kraft, mich zu beherrschen, die Zähne zusammenzubeißen; das Klebeband auf meinem Mund trug noch immer Wärme und Gewicht der Jägerhand.
    Ich sah ihm in die Augen. Ganz langsam streckte ich ihm den Mittelfinger hin. Er lachte leise. Dann warf er die Hecktür zu.

59 .
    Poulsom wachte schweißgebadet und zitternd auf. Soweit ich nach dem wenigen Licht urteilen konnte, das durch die Milchglasscheibe fiel, hatten ihm die Nacht und der Tag im Van schwer zugesetzt. Er murmelte hinter seinem Klebeband sinnlos vor sich hin. Dann schaute er auf die Uhr.
    Ich brauchte gar nicht erst in sein Gesicht zu schauen, um mir zu verraten, wie nah es bis zur Verwandlung war. In der letzten Stunde war ich in die Phase getreten, in der der Wolf mit still brennender animalischer Wachheit durch menschliche Augen schaut. Handgelenke und Knöchel waren blutig von den Hungerkrämpfen, in denen ich mich an den Fesseln geschnitten hatte, aber meine Gliedmaßen hatten sich trotz der Schmerzen beruhigt.
    Hatten
. Die Vorbereitungsphase ging vorüber. Jeden Augenblick würde die letzte Phase beginnen – Krämpfe, Übelkeit, Hitze und Kälte, eine halbe unendliche Minute beiläufig zerrissener
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