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Der letzte Karpatenwolf

Der letzte Karpatenwolf

Titel: Der letzte Karpatenwolf
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Zeitalter, in dem man lebt, nicht vorher aussuchen. Und es ist sinnlos, jetzt darüber nachzudenken, wie es sein könnte. Man muß einfach hinnehmen, wie es ist.
    Wie sagt ein Weiser der Kirgisen: Auch ein erfrorenes Kamel ist Fleisch …
    Sumjow seufzte und unterschrieb die Entlassungspapiere Peters'.
    Der alte Mihai Patrascu war einen Tag lang toll, als Sonja mit einem Jeep unverhofft nach Tanescu gefahren wurde und in die alte Hütte trat, als sei sie gerade von einem Einkauf aus Bacau zurückgekehrt.
    Anna, die Mutter, seufzte auf und fiel von der Holzbank auf den Fußboden. Mihai ließ sie liegen … er hatte Sonja an sich gerissen, küßte sie schmatzend ab und spürte nicht, daß er weinte.
    »Mein Täubchen!« schrie er zwischen den Küssen. Es war wie ein heiseres Brüllen. »Mein Augenlicht! Mein Leben!« Er tastete über ihr Gesicht, den Körper entlang, als suche er etwas, was anders geworden war als vorher. Aber es war die gleiche Sonja, vielleicht etwas magerer geworden, etwas ernster, reifer, in sich gekehrter … aber sie war es! Da wurde er toll, rannte aus dem Haus, rannte über die Straße, durch das ganze Dorf und brüllte zu den Häusern links und rechts der Straße: »Sonja ist wieder da! Meine Sonja! Meine Sonja!«
    In einem fahrbaren Stuhl ließ sich Georghe Brinse herbeifahren. Seit einem Monat konnte er nicht mehr laufen. Es war ganz plötzlich gekommen … als er eines Morgens aufstehen wollte, bewegten sich seine Beine nicht mehr. Aber sein Kopf war klar geblieben, und als er den brüllenden Mihai Patrascu hörte, winkte er dem jungen Arzt zu, der zur Einarbeitung aus Bukarest in das kleine Dorf gekommen war.
    »Fahr mich schnell hin, Freundchen«, sagte Brinse und raffte seine Arzttasche in den fahrbaren Stuhl. Er ahnte, daß Anna Patrascus Herz dies nicht mitgemacht hatte und sich keiner um sie kümmerte. »Du weißt nicht, was dieser Tag für Tanescu bedeutet …«
    Der junge Arzt wußte es nicht … aber gehorsam rollte er Georghe Brinse über die Straße zum Hause der Patrascus.
    »Schneller!« kommandierte Brinse. »Schneller, Genosse!« Fast laufend erreichten sie die Hütte, und Brinse fluchte wie nie in seinem Leben, daß gerade jetzt seine Beine ihn verließen. Er betrachtete es als einen Verrat der Natur, der er bisher immer geholfen hatte.
    Als sie in das Haus rollten, hatte Sonja bereits Mutter Anna hinüber ins Schlafzimmer geschleift und auf das niedrige Bett gelegt. Sie hatte ihr die Kleider ausgezogen und rieb die Herzgegend mit einem scharfen Kartoffelschnaps ein.
    Brinse ließ sich an das Bett rollen und griff nach dem Puls. Er war kaum noch tastbar. Der Atem war nur noch wie ein Hauch.
    »Gut, daß du wieder da bist«, sagte Brinse zu Sonja. Das war alles. Aber in diesen wenigen Worten lag die ganze innere Befreiung von einem Druck, der über allen gelastet hatte. Dann holte er aus seiner alten Arzttasche eine Spritze, brach eine Ampulle ab, zog die Spritze auf und injizierte Anna die wasserhelle Flüssigkeit in die dicke Armvene. Es war, als flösse durch Annas Körper ein neues Leben … sie streckte sich, die Brust hob sich, und der Atem ging tief und regelmäßig.
    Georghe Brinse schob die Tasche wieder in seinen Rollstuhl zurück. »Was ist mit Michael?« fragte er. Sonja hob die Schultern. Ein Schatten glitt über ihr Gesicht.
    »Ich weiß es nicht. Er soll auch entlassen werden – hat man mir gesagt.«
    »Dann wird er kommen.«
    »Glaubst du das wirklich?« Es war eine klägliche Frage. Die Hoffnungslosigkeit, die sich in den Wochen der Haft ihrer bemächtigte, schwang in ihr mit. »Wenn du ihn gesehen hättest … wenn du seine Augen gesehen hättest … seine dünnen Arme … dieses tote Gesicht …« Sie weinte und vergrub ihren Kopf neben der Mutter in der Decke.
    Brinse streichelte über ihre Schultern. Dann wandte er sich zu dem jungen Arzt, der nur halb verstand, was er sah. Als der Krieg zu Ende ging, war er ein Schuljunge gewesen. Dann hatte er auf Kosten des kommunistischen Staates studiert und sollte als jungkommunistischer Intellektueller die Idee des Arbeiterstaates durch seine Arzttätigkeit in die kleinen Gemeinden der Karpaten tragen. Um sein späteres Gebiet kennenzulernen, hatte man ihn von Bukarest nach Bacau und von dort auf Empfehlung des jetzt mächtigen John Lupescu zu Brinse nach Tanescu geschickt. Was sich hier abgespielt hatte und vor seinen Augen abrollte, interessierte ihn wenig. Es hatte ihn auch keiner mit diesen Dorfdingen vertraut
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